Wer ist für die SPD der bessere Kanzlerkandidat?

Boris Pistorius ist als Verteidigungsminister beliebt. Seine Popularität rührt von seiner forschen, offenen Art. Allerdings weniger von den Erfolgen, die sind eher überschaubar: Die Bundeswehr schrumpft, der Etat stagniert, es fehlt an Personal. Pistorius’ Versuche, mehr Geld zu bekommen, sind gescheitert. Als er die Wehrpflicht reaktivieren wollte, stoppte Bundeskanzler Olaf Scholz ihn wegen der Landtagswahlen im Osten. Als er mehr Geld forderte, beschied Fraktionschef Rolf Mützenich barsch, er solle gefälligst nicht aus der Reihe tanzen. Tat Pistorius dann auch nicht. Er könnte es auch gar nicht. Denn in der SPD-Fraktion hat der Seiteneinsteiger ohne Mandat nichts zu sagen: Pistorius darf dort nur sprechen, wenn Mützenich es gestattet.

Scholz hat längst erkannt, dass er sich 2023 mit Pistorius einen möglichen Konkurrenten ins Kabinett geholt hat. Deshalb wurde im Kanzleramt früh begonnen, den rustikalen Niedersachsen zu bremsen, was allerdings auch zulasten der Streitkräfte ging. Scholz handelte nach dem Prinzip: Ich first. Pistorius wiederum unternahm nichts gegen die Scholz-Bremse. Statt seine Popularität in die Waagschale zu werfen, notfalls gegen den Kanzler etwas zu riskieren, gab der Verteidigungsminister klein bei. Seinen Etat, der eigentlich um mindestens zehn Milliarden pro Jahr wachsen müsste, nannte er „ärgerlich“. Das war’s dann auch.

In der Fraktion hatte Pistorius bislang nur wenige Unterstützer mit Einfluss. Viele solide Verteidigungspolitiker der SPD wurden von Mützenich und den Parteilinken längst kaltgestellt. Auch zum SPD-Obmann im Haushaltsausschuss hat Pistorius keinen guten Draht. Seinen Kurs der „Kriegstüchtigkeit“, den er eine Zeit lang offensiv vertreten hat, lehnen große Teile der SPD-Fraktion ab, darunter der Vorsitzende.

Pistorius liegt in einer Frage mit der Fraktion über Kreuz

Kurz gesagt glaubt Pistorius, dass man die Bundeswehr und Europa gegen ein aggressives Russland stärken muss, während seine Gegner meinen, es sei besser auf eine Art Friedensdiplomatie unter Wahrung der Interessen Moskaus zu setzen. Pis­torius müsste sich also eigentlich von seinen Kernüberzeugungen lösen, wollte er in der SPD-Fraktion Unterstützung für eine Kanzlerkandidatur gewinnen. Dass es nun doch solche Stimmen gibt, ist Ausdruck der blanken Angst bei vielen Sozialdemokraten vor dem Wahlergebnis.

Wahlumfragen nehmen Einfluss auf die Politik, schwanken aber oft stark.
SonntagsfrageWie stark ist welche Partei?

Verließe Pistorius mitten im Umbruch vorzeitig das Verteidigungsministerium, um seine Kanzlerkandidatur zu be­treiben, würde das im Bendlerblock als Loyalitätsbruch verstanden. Jahrelang war das Ministerium Sprungbrett oder Durchlauferhitzer für ehrgeizige Politiker, die mehr wollten. Karl-Theodor zu Guttenberg, Ursula von der Leyen oder Annegret Kramp-Karrenbauer (alle von der Union) hatten nach Höherem gestrebt. Pistorius war seit Langem der erste Verteidigungsminister, der glaubhaft versichert hatte, er wollte genau das sein. Und nicht mehr.

Würde er jetzt doch mehr wollen, gäbe es eine Leerstelle. Und es könnte der Eindruck entstehen, Pistorius stünden seine Karriere und die SPD doch näher als das Land und seine Sicherheit. Und das mitten im Wechsel der amerikanischen Regierung. Irgendjemand müsste in den fünf, sechs Monaten bis zu einem neuen Kabinett die Amtsgeschäfte gewissenhaft führen, nach Washington reisen, mit den täglichen Aufgaben und Krisen des Ministeriums verantwortlich umgehen.

Wo Pistorius einen großen Nachteil hat

Würde Pistorius all das ignorieren, wie wäre dann seine organisatorische Ausgangsposition? Scholz bereitet seine abermalige Kandidatur seit dem Wahlsieg vor drei Jahren vor, gemeinsam mit bewährten Mitarbeitern, loyalen Ministern wie Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt oder Steffen Hebestreit, seinem Sprecher. Friedrich Merz, Kanzlerkandidat der Union, baut das Adenauer-Haus seit Anfang 2022 zu seinem Hauptquartier um, hat die Fraktion hinter sich. Bei den Grünen konzipierte Robert Habeck seine Bewerbung über Monate in Hunderten Gesprächen, baute solide Presse- und Kommunikationsapparate auf, brachte in der Parteizentrale einen robusten Arbeitsstab in Stellung.

Das garantiert keinen Erfolg. Aber das alles nicht zu haben bedeutet einen schweren Nachteil im Wettstreit um das Amt. Gemessen an diesen großen Wahlkampfmotoren würde Pistorius auf einem Mofa in die Schlacht führen. Im Ministerium hat er neben seinem bewährten Staats­sekretär Nils Hilmer und Büroleiter Christian Heusermann vor allem Stabsoffiziere an seiner Seite. Fähige Organisatoren der Streitkräfte, gewiss. Aber Wahlkämpfer wohl kaum.

Und was wäre das für ein Signal in die Bundeswehr, wenn auch Hilmer das Ministerium verließe, um der SPD-Kampagne zu helfen. Pistorius’ Sprecher, Michael Stempfle, kommt vom Fernsehen, der Minister kannte ihn zuvor als Sicherheitsreporter der ARD. Mit der SPD und Kampagnenplanung hatte Stempfle nie das Geringste zu tun. Es ist auch nicht bekannt, dass er danach streben würde.

Pistorius war Zeuge, als der „Schulz-Zug“ entgleiste

Pistorius müsste sich also ganz auf die Parteizentrale der SPD verlassen. Das hat schon dem vorletzten SPD-Kandidaten Martin Schulz schwer geschadet. Sein rasanter Niedergang vom Parteivor­sitzenden und Lokomotivführer des „Schulz-Zugs“ zum Hinterbänkler in der SPD-Fraktion ist ein lehrreiches Beispiel. Schulz hatte 2017 im Willy-Brandt-Haus kein Team und keinen Rückhalt. Der einzige Mann, auf den er sich verlassen konnte, Mitarbeiter Markus Engel, fiel mitten im laufenden Wahlkampf wegen Krankheit aus.

Der „Schulz-Zug“ entgleiste. Pistorius war damals Augenzeuge, er gehörte als Innenpolitiker zum Team von Schulz. Danach war die SPD sicher, dass man mindestens ein Jahr brauche, um eine Kandidatur solide vorzubereiten. Scholz machte das. 13 Monate vor der Wahl gab die Partei seine Kandidatur bekannt, eng abgesprochen, gut vorbereitet. Für Pistorius blieben drei Monate, inklusive Weihnachten.

Planvolle Vorbereitung ist dagegen das Zauberwort für Olaf Scholz: Wohl noch nie hatte sich ein Politiker so gut aufs Kanzlersein vorbereiten können wie er. Er schaute seiner Vorgängerin Angela Merkel am Kabinettstisch lange Zeit über die Schulter. Er schrieb Bücher, die heute noch von seinen Leuten zur Lek­türe empfohlen werden, denn schon darin werde der große Plan entfaltet. Überhaupt: Scholz hat einen Plan, das war lange das Credo. Hauptsache kein Kon­trollverlust. Insofern kann man sich ausmalen, wie die ak­tuelle kom­mando­lose Kanzlerkandidatenfrage in der SPD Scholz’ Naturell zuwider sein dürfte.

Respekt für Scholz, aber eine Verehrung gab es nie

Es war für Scholz ein mühsamer Weg, die Anerkennung und den Beifall der eigenen Leute zu bekommen. Respekt hatten sie für ihn von Anfang an, Zuneigung, gar Verehrung gab es nie. Zusammen mit der heutigen Bundesbauministerin Klara Geywitz verlor der Politprofi Scholz krachend das Mitgliedervotum gegen die weithin Unbekannten Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans. Doch Scholz war schon damals zäh, blieb Finanzminister und bereitete seine Kandidatur vor, die zum Erfolg führte. Man mag manchmal über das Selbstbewusstsein von Scholz auch unter widrigsten Umständen staunen – aber es hat einen klaren, nachvollziehbaren Ursprung.

Zu der Kampagne von Esken und Walter-Borjans gehörte damals auch eine junge Bundestagsabgeordnete, Wiebke Esdar. Die machte bald Karriere, ist inzwischen Sprecherin der Parlamenta­rischen Linken, einem der beiden mächtigen Flügel in der SPD-Fraktion. Und nun begegnen sich Scholz und Esdar wieder. Zusammen mit Dirk Wiese, dem Sprecher des konservativen Seeheimer Kreises, fand sie Worte, die wie aus einem Nachruf klingen: „Mit einigem Abstand werden seine Arbeit und seine Entscheidungen für unser Land mit Sicherheit weitaus positiver beur­teilt werden.“

Damit haben die beiden wichtigsten Strömungen in der SPD-Fraktion den Daumen über Scholz gesenkt. Zudem sind Esdar und Wiese die Vorsitzenden der großen NRW-Landesgruppe. Während der Bundeskanzler in Rio de Janeiro beim G-20-Gipfel Weltpolitik macht, wird die Kluft zu Hause bei seiner SPD immer größer. Wer steht noch auf der Seite des Grabens neben dem Kanzler? Es sind die zwei Personen, die ihn seit vielen Jahren begleiten. Regierungssprecher Steffen Hebestreit und Kanzleramtsminister Wolfgang Schmidt.

Zuspruch für Pistorius sogar auf der Parteilinken

Sie erklären seit Jahr und Tag die Po­litik des Kanzlers, versuchen Erfolge sichtbar zu machen. Vor allen Dingen bei Schmidt stellt sich die Frage, wann er eigentlich zum Schlafen kommt, bei all der Maschinenraum- und Erklärarbeit, die er für Scholz leistet. Denn er muss jetzt auch noch Wahlkampf in eigener Sache machen. Er kandidiert in einem Hamburger Wahlkreis für den Bundestag. Einige Beobachter wollen darin seine Absicherung für die Zeit nach einem Kanzler Scholz erkennen. Bis dahin dürfte seine Treue aber unverbrüchlich sein. So jemanden muss man als Spitzenpolitiker erst einmal finden.

Wenn Scholz schon nicht so beliebt ist wie Pistorius, ist er dann wenigstens fleißiger und erfolgreicher, wie von seinen Leuten immer wieder betont wird? Tatsächlich hat sich Scholz in den Jahren seiner Tätigkeit wohl mit fast allen Winkeln der Politik beschäftigt. Man darf vermuten, dass er zu jedem Politikfeld eine begründete Einschätzung hat. Pistorius hat man in den vergangenen Jahren nichts zur Rente oder Erbschaftsteuer sagen hören.

Konkret wird für Scholz auf der Habenseite angeführt, dass er die Energiekrise nach dem russischen Angriffskrieg bewältigt hat und dauerhaft Hilfe für die überfallene Ukraine bereitstellt. Der Kanzler sieht sich mit seinem Mittelweg auf der richtigen Spur: Zweitgrößter Unterstützer sein, beim gleichzeitigen Ziehen roter Linien, etwa der Lieferung des Taurus-Marschflugkörpers. Pistorius hat sich zwar hinter die Entscheidung von Scholz gestellt, auch nach der amerikanischen Freigabe weitreichender Waffen beim Nein zur Lieferung zu bleiben. Er stünde aber eindeutig für einen klareren Kurs der Unterstützung, näher an der Linie von Union und Friedrich Merz.

Eigentlich müsste dieser Kurs auf Kritik beim linken SPD-Flügel stoßen. Dass sich deren Sprecherin Esdar nun aber positiv zu Pistorius geäußert hat, veranschaulicht den Ernst der Lage, die Angst. Ähnlich beim Seeheimer Kreis, wenn auch mit anderen Vorzeichen: Da hat man bis vor Kurzem noch Scholz’ Konterfei auf Stoffbeutel gedruckt, so prima fand man ihn. Aber, das wird jetzt deutlich: Scholz genießt keine große Autorität, sein Wort kann keine Debatten beenden, die Angst vor einer Demontage des noch amtierenden Kanzlers wirkt auf viele nicht abschreckend.