Weihnachten allein: Muss ich Weihnachten zu den Eltern fahren? – Gesellschaft

Als ich mich entschieden habe, Weihnachten weder daheim noch mit der Familie zu verbringen, kam mir das erst einmal wie das Normalste der Welt vor. Eine Entscheidung halt, die keiner ausschweifenden Begründung bedurfte. Ich wollte in München bleiben und die Feiertage in Ruhe genießen. Heiligabend, so hatte ich mir das vorgenommen, würde ein Fest werden mit gutem Essen, Kerzenlicht und einem noch besseren Buch. Am nächsten Morgen würde ich backen, meinen inzwischen zehn Jahre alten Sauerteig mal wieder nutzen. Meine Eltern mussten am Telefon nicht groß überredet werden, sie waren schnell d’accord. Sie selbst verabschiedeten sich dann nach Dänemark. Da sei es so viel entspannter und Ferienhäuschen über die Feiertage noch einigermaßen erschwinglich, recht haben sie.

Spätestens mit dem Advent wurde mir dann aber klar, dass ich mit dieser Entscheidung anecke. Ich hatte ein Tabu gebrochen, denn: Weihnachten gehört der Familie. Erst recht, wenn man weder verpartnert ist noch eigene Familie hat, sondern sein Single-Mittzwanziger-Dasein pflegt. In den vergangenen Jahren war ich dreimal an Weihnachten nicht daheim. War stattdessen spazieren, unter Freunden, auf WG-Partys und im Rausch auf der Tanzfläche. Das war nicht immer weihnachtlich, aber verdammt schön. Und in der Auseinandersetzung damit, was es eigentlich heißt, Weihnachten „allein“ zu sein, hat sich auch verändert, wie ich über Liebe und Familie nachdenke.

Zu den zwei gängigsten Vorweihnachtsfragen, die man einander und insbesondere Freunden bei Glühwein stellt, gehören: Was machst du an Silvester? Und wie verbringst du Weihnachten? Auf die erste Frage darf man alles antworten, je schriller, desto besser. Die Antworten für die zweite Frage hingegen sollten sich alle in einem gewissen Rahmen aus „in der Heimat“, „mit Partner“ oder „mit der Familie“ befinden. Zumindest dann, wenn man nicht zum center of attention der Unterhaltung werden möchte.

Den Gedanken, dass ich Weihnachten allein verbringe, kann mein Freund K. nicht ertragen

Andernfalls schlägt nämlich das Gespräch um, in Richtung Bestürzung, Bedauern oder Mitleid. Einem Freund, hier soll er K. heißen, wäre beinahe sein Zippo in die Feuerzangenbowle gefallen, als ich anfing zu erzählen. K. ist Familienmensch, ein sehr großer sogar, und hat mich deswegen im Laufe des Abends mehrmals ins Zuhause seiner Eltern eingeladen, damit ich alles tue, aber Heiligabend auf keinen Fall allein verbringe. Diesen Gedanken, so sagte er es, könne er nicht ertragen. Wie es mir damit geht, erfragte K. erst kurze Zeit später. Bei seinen Eltern gebe es übrigens ein Drei-Gänge-Menü.

An wenig anderen Tagen im Jahr ist der soziale Erwartungsdruck so hoch wie an Weihnachten. Dabei geht es inzwischen weniger um Religion und Sitten als um gemeinsame Zeit. Ein Gut eben, das – so die allgegenwärtige Analyse – stets knapp ist, außer man ist Kind und wartet sehnlichst darauf, die Geschenke unter dem Weihnachtsbaum auszupacken. Weihnachten ist nicht automatisch friedlich, aber halt doch wertvoll, weil es der Familie, der Heimat, der Geborgenheit Raum gibt. Und dem Food-Koma natürlich auch.

Wie viel an dieser Analyse wahr und wie viel einfach nur Folklore ist, sei mal dahingestellt. Hollywood und inzwischen auch Anbieter wie Netflix überbieten sich gegenseitig mit ihren gleichermaßen kitschigen wie trashigen Wir-fahren-über-Weihnachten-nach-Hause-und-sind-glücklich-Filmen. Warum nicht einfach mal darauf verzichten und Weihnachten allein zu Hause verbringen? Praktisch wie Kevin aus „Home Alone“, nur freiwillig und ohne Einbrecher? Mein liebstes Weihnachtslied ist „Driving Home for Christmas“ von Chris Rea, und trotzdem muss ich nicht jedes Jahr in die Heimat fahren, um glücklich zu sein. Ausgeglichen. Im Christmas Spirit.

Fünf Uhr morgens, erster Weihnachtsfeiertag, wir stehen in der Schlange eines bekannten Münchner Techno-Clubs

Fünf Uhr morgens, erster Weihnachtsfeiertag 2022. Eine unchristliche Zeit, klar. Aber zu dieser stand ich mit Freunden in der Schlange vor einem bekannten Münchner Techno-Club. Das Wetter war für Ende Dezember erstaunlich mild, daran erinnere ich mich gut. Wie wir auf die Idee kamen, noch feiern zu gehen, kann ich und können andere Clubgänger hingegen nur noch ansatzweise zusammenpuzzeln. Erst recht zu einer Zeit, zu der viele eher nach Hause kommen, als loszuziehen.

Die Freunde waren vor der Party, vor der Clubschlange, alle bei ihren Familien. Bescherung, Essen, Geschichten von früher.

Ich war allein daheim und habe bis zum Abend gelesen. Eine Bescherung hatte ich trotzdem, die Geschenke kamen per Post. Und gekocht wurde auch, Rotkohl, Bratkartoffeln, pochierte Eier, Rotweinsauce. War, ehrlich gesagt, ziemlich geil. Gegen 21 Uhr vibrierte mein Handy, eine Einladung auf eine spontane WG-Party, die zum Sprungbrett für den restlichen Abend wurde.

In den Club zu gehen, war eine gute Entscheidung. Nicht nur für den plot, also nicht nur, um meinen Freunden später eine gute Geschichte erzählen zu können, sondern auch für den Abend. Die Stimmung war anders als sonst. Weniger roh, aber nicht unbedingt sanft. Weniger exaltiert, mehr wie ein Auffangbecken für Leute wie uns, für eher untypische Nachtschwärmer.

Lag das nun an Weihnachten? Mittelbar vermutlich schon. Denn die Leute im Club waren schlicht nicht die üblichen Verdächtigen. Es waren Heimkehrer, die in München aufgewachsen sind, aber inzwischen in Frankfurt oder Berlin lebten. Und es waren diejenigen, für die ein Heimflug über Weihnachten nicht drin war, aus ganz verschiedenen Gründen. Aber in der Regel, weil die Heimat zu weit weg ist. Ein Chilene erzählte mir draußen beim Rauchen, er würde doch kein Dutzend Flugstunden für Weihnachten auf sich nehmen, one-way, wohlgemerkt. Seine Familie liebe er natürlich trotzdem. Dann zündete er sich eine zweite Kippe an und verschwand Richtung Isar.

Gegen Mittag und nach zu wenig Schlaf rief ich meine Eltern an. Wir holten in einer guten halben Stunde das nach, was wir sonst an Heiligabend im Christbaumkerzenschein besprochen hätten. Das Gespräch war herzlich, warm, wirklich weihnachtlich, und ein wenig vermisste ich sie. Ich erzählte ihnen damals nicht, dass ich am Vorabend feiern gewesen war. Inzwischen wissen sie es.

Heiligabend ist nicht darauf ausgelegt, dass man nicht daheim ist oder wenigstens nach Hause reist

Damals aber wäre es mir komisch vorgekommen. Und das liegt nicht am Feiern, sondern daran, dass mich zwischen „Ich verbringe Weihnachten in München“ und Heiligabend doch der Zweifel beschlichen hatten. Eigentlich hatte er mich erwischt wie eine Falle. Das lag am ständigen Hinterfragtwerden durch Freunde und Bekannte, klar, aber auch daran, dass man faktisch gegen den Strich lebt. Die Deutsche Bahn verspricht jedes Jahr zu Weihnachten, extra viele Züge aufs Gleis zu bringen, um Menschen wie mich in die Heimat zu bringen. Geschäfte machen früher zu, damit die Angestellten bei ihren Familien sein können. Wer am 24. Dezember spazieren geht, merkt: Nach 16 Uhr sind die Straßen wie leer gefegt, unabhängig vom Wetter. Heiligabend ist nicht darauf ausgelegt, dass man nicht daheim ist oder wenigstens nach Hause reist.

Dabei verbringen einige Menschen Heiligabend allein. Vergangenes Jahr veröffentlichte die von einem britischen Tabakgiganten finanzierte Stiftung für Zukunftsfragen – kurz vor Weihnachten natürlich – die Ergebnisse einer (nach eigenen Angaben) repräsentativen Umfrage. Demnach sind immerhin sieben Prozent der Deutschen Heiligabend für sich. Das wären immerhin fast sechs Menschen, die es freiwillig oder unfreiwillig so halten.

Meine Entscheidung, allein zu feiern, war auf jeden Fall Ersteres: eine selbstbestimmte Wahl. Genug Menschen haben diese nicht. Sie verbringen den 24. Dezember allein, weil sie nicht anders können. Weil sie arbeiten müssen. Oder weil sie niemanden mehr haben, vielleicht sogar verstoßen wurden. Manche finden dafür Gemeinschaft in Wahlfamilien oder „chosen families“, ein Begriff, der nicht nur, aber auch in der queeren Community dafür steht, seine Leute gefunden zu haben. Eine selbstgewählte Familie sozusagen, und keine, die zugelost wurde qua Geburt.

Es gehört vermutlich eine große Portion familiärer Geborgenheit dazu, sich ein Weihnachten allein guten Gewissens leisten zu können

Je länger ich über meine Weihnachten allein nachdenke, komme ich mehr und mehr zu dem Schluss: Es gehört vermutlich eine große Portion familiärer Geborgenheit dazu, sich ein Weihnachten allein guten Gewissens leisten zu können. Ich bin Einzelkind, meine Eltern sind noch zusammen, und ich kam bisher recht problemlos durchs Leben – quasi all das, was Nina Chuba in ihrem Song „Ich hass dich“ so schön als beneidens- und damit auch hassenswert besingt. Meine Familie ist klein, aber vergleichsweise intakt. Weihnachten, das waren oft Angelegenheiten mit höchstens einem halben Dutzend Menschen. Nicht immer entspannt oder einfach, aber friedlich. Wenn da jemand fehlt, fällt das auf. Und es ist trotzdem nicht schlimm, weil es die familiäre Liebe nicht schmälert. Im Gegenteil.

Natürlich klingt das erst einmal paradox: Familie heißt nun einmal Nähe, nicht Distanz. Und doch ist es natürlich ein Vertrauens- und damit auch ein Liebesbeweis meiner Eltern in mich, dass sie mir den Raum geben, Weihnachten so zu verbringen, wie ich es möchte. Familie ist ein verbautes Terrain aus Urvertrauen und den vielleicht schönsten Erlebnissen, aber eben auch aus alten Verletzungen und Kränkungen. Und aus Ansprüchen sowieso.

Für genug Eltern heißt das: Zu gewissen Tagen ist man eben zusammen. Ganz egal, was ist. Als Mutter oder Vater darüberzustehen und zu sagen: „Du kannst Heiligabend machen, was du möchtest“, ist stark. Und wertvoll. Familiäre Liebe kann – wie partnerschaftliche Liebe – meinen, einander Raum zu geben und Abstand, wo nötig. Vielleicht sollte sie das sogar. Das alles ist eine Abwägungsfrage, bei der verschiedene Bedürfnisse verhandelt werden müssen und mit der am Ende jeder glücklich sein muss.

Leicht fiel es meinen Eltern natürlich nicht, weder beim ersten noch beim wiederholten Mal. Dezent, aber beständig fragten sie bis Weihnachten immer wieder nach, ob ich denn wirklich okay damit sei, Weihnachten allein zu verbringen. Nicht aufdringlich, eher pflichtbewusst. Für mich stellt sich die Frage, ob man noch ein guter Sohn sein kann, wenn man einen Termin wie Weihnachten sausen lässt. Und für sie stellt sich die gleiche Frage, nur aus Elternsicht. Beides würde ich mit „Ja“ beantworten.

Letzten Endes ist ein Weihnachten allein so tragisch wie klug. Tragisch, weil meinen Eltern und mir wie allen Familien nach dem Auseinanderziehen nur noch vergleichsweise wenig Zeit miteinander bleibt. Und klug, weil gemeinsame Weihnachten in Zukunft eher seltener werden, wenn es dann auch bei mir ans Setteln geht. Ans Partnerfinden und – Stand: jetzt – Fernab-der-Heimat-sesshaft-Werden. Distanz an Tagen wie Heiligabend jetzt schon zu üben, auszuprobieren und, ja, auch zu feiern, ist das beste Training.

Was von der Weihnachtsnacht im Club bleibt, ist im Nachhinein leider nicht viel. Ich habe nicht einmal Bilder gemacht. Im Club war das ohnehin verboten, aber auch von der WG-Party: nada. Das Einzige, was noch da ist, ist der Kontoauszug mit Eintrag vom Eintritt. Fünf Uhr irgendwas. Dieses Jahr fahre ich an Heiligabend wieder nach Hause. Ich habe das Gefühl, es könnte das letzte Weihnachten mit meiner Großmutter werden. Auf Nähe möchte ich in so einem Fall nicht verzichten. Egal, was ist.