Nein, so tief sind wir noch nicht gefallen, dass wir in die Häme einstimmen wollen, mit der Karoline Leavitt derzeit bedacht wird. Anlass ist ein vom Magazin „Vanity Fair“ veröffentlichtes Foto, das die Sprecherin des Weißen Hauses ungewohnt nah zeigt. Nicht emotional, das wäre auch mal was, sondern räumlich. Es ist ein Foto, das jene „Skinfluencer“ in den sozialen Medien Lügen straft, die versöhnlich behaupten: Drückt nicht zu viel an den Talgdrüsenfollikeln eurer Nase rum, so nah kommt euch eh niemand!
Die Achtundzwanzigjährige ist auf den ersten Blick kaum zu erkennen: Nur Mund, Nase und Augen sind zu sehen, die Augenbrauen abgeschnitten. So wenig kann zu einem Fressen für viele werden. Die sichtbaren Hautporen, pah, die sollen einer Frau unter 30 gehören? Der Nasenrücken, der orangefarben schimmert? Die roten Punkte am oberen Lippenrand, die auf formoptimierende Injektionen hindeuten? „HAHAHA“, heißt es in vielfacher Ausführung unter dem Instagram-Post des Magazins.
Die Zeitschrift ließ das Foto im Zuge einer Langzeitbeobachtung mehrerer enger Vertrauter Trumps aufnehmen, die auch aus anderen Gründen Aufsehen hervorrief. Die parallel wachsende Aufregung über das Bild ließ das Weiße Haus gegenüber amerikanischen Medien ebenso wenig unkommentiert. „Vanity Fair“ habe die Sprecherin und andere Mitarbeiter „absichtlich auf bizarre Weise fotografiert und die Fotos bewusst bearbeitet“. Das Ziel demnach: „Sie zu erniedrigen und in Verlegenheit zu bringen.“
Wieso findet das niemand skandalös?
Auch diesen Vorwürfen wollen wir uns selbstredend nicht anschließen. Geschenkt ist die Erkenntnis: Je nach politischer Haltung hat das Foto Schadenfreude oder Empörung ausgelöst. Aber: Gewöhnlich findet das Gesicht von Leavitt offenkundig so gut wie niemand.
Wir fragen uns: Wieso findet das niemand skandalös? An alle Seiten gerichtet: Politisch motiviertes Ausschlachten, schön und gut, aber mit solch weltfremden, selbstignoranten Mitteln? Kennt niemand außer uns die Situation, sich morgens im Badspiegel halbwegs passabel zu finden, nur um im grellen Licht des Büroaufzugs plötzlich Poren und Unreinheiten zu entdecken, die ganz sicher jedem Gegenüber ins Auge springen werden und unweigerlich zu einer Abmahnung wegen ungepflegtem Auftreten führen müssen?
Powerwort Momentaufnahme!
Kennt denn niemand sonst das Gefühl, sich nett zurecht gemacht zu haben (Leavitt hatte persönliches Stylingpersonal beim Shooting dabei), nur um auf Fotos später festzustellen, dass man aus einem bestimmten Winkel wirklich gar nicht nett zurecht gemacht aussah? Insbesondere zum Jahresende, wo man in einer irren Taktung von einer Weihnachtsfeier zur nächsten hüpft?
Man mag solche Offensichtlichkeiten im Zeitalter der Frontkameras und des persönlichen Bearbeitungsdrangs wegignoriert haben. Aber: Niemand sieht so aus, wie er denkt, dass er für andere aussieht. Und Menschen sehen in unterschiedlichen Kontexten unterschiedlich aus – wir denken an das Powerwort Momentaufnahme! Und finden das Leavitt’sche Zeugnis dieser Binsenweisheit wahrlich schön. Wer denkt, er wäre stets besonders hübsch anzusehen in einer Nahaufnahme, der schreibe den ersten Instagram-Kommentar.
Christopher Anderson, der Fotojournalist hinter der Linse, hat sich nun in der „Washington Post“ geäußert. Leavitt sei nicht die Erste, die er aus so geringer Entfernung aufgenommen habe, sagte der Fotograf der Zeitung, er mache das schon lange so. Es gehe, wer hätte das gedacht, darum, „das inszenierte Bild der Politik“ zu durchbrechen.
Anderson erklärte auch die im Fotojournalismus geltende Regel, die man im Internet vermutlich nicht häufig genug erklären kann: „Die Leute scheinen schockiert zu sein, dass ich Photoshop nicht verwendet habe, um Hautunreinheiten und ihre Injektionsstellen zu retuschieren. Ich finde es schockierend, dass jemand von mir erwarten würde, solche Dinge zu retuschieren.“ Und er sagte noch etwas, das nachdenklich macht: „Wenn es ein Angriff ist, das Gesehene ungefiltert darzustellen, wie würde man es dann nennen, wenn ich mich dafür entschieden hätte, es zu bearbeiten, Dinge zu verbergen und sie besser aussehen zu lassen, als sie sind?“
