
Wer sich für Mode interessiert, kennt die verwackelten Videoaufnahmen und Fotos aus den Backstage-Bereichen großer Schauen. Models werden vor ihrem kurzen, aber großen Auftritt geschminkt und frisiert, lächeln in die Kamera und geben Interviews. Ein Blick hinter die Kulissen, der Nahbarkeit suggeriert und doch meist inszeniert ist. Einen unverfälschteren Eindruck von einer Modenschau können Besucher live am kommenden Samstag bekommen.
Dann findet das „Festival op de Ring“ statt, als Teil der Feierlichkeiten zum 750. Geburtstag von Amsterdam. 15 der insgesamt 32 Kilometer des Autobahnrings, kurz A10, sind an diesem Tag gesperrt. Wer ein (kostenloses) Ticket hat, kann hier Konzerte, Sport und sogar Hochzeiten erleben – und eine Modenschau.
60 Looks werden gezeigt, entstanden unter anderem aus Stoffresten von Levi’s, entworfen von fünf Design-Talenten, denen etablierte Designer als Mentoren zur Seite stehen: Borre Akkersdijk, Gründer des Textilstudios Byborre, das Stoffe für die Mode-, Interior- und Mobilitätsbranche entwirft und nachhaltig herstellt, Guillaume Philibert, Gründer der Luxus-Streetwear-Marke Filling Pieces, und Renée van Wijngaarden, die mit 1/OFF Vintage-Stücke neu aufleben lässt.
„Normalerweise finden Modenschauen hinter verschlossenen Türen statt“
Auch diese Schau ist sorgfältig kuratiert, aber mit einer Nahbarkeit versehen, die selten ist in der Welt der Mode mit ihren Front Rows, in denen nur Platz für „wichtige“ Gäste ist. Hier ist jeder mit entsprechendem Ticket willkommen, auch schon bei den Vorbereitungen. „Normalerweise finden Modenschauen hinter verschlossenen Türen statt. Mir gefällt die Idee, alle zu inspirieren“, sagt Danie Bles. Seit 2017 leitet sie die Amsterdam Fashion Week.
Bles hat ein Faible für Schauplätze in der ganzen Stadt. Unter ihrer Führung fanden schon Schauen in der Nationaloper in Amsterdam statt, im opulent-altmodischen De L’Europe Hotel und auf dem Museumplein, dem unter anderem vom Van-Gogh-, Stedelijk- und Moco Museum gesäumten Platz. Den Laufsteg sieht sie weniger als Plattform für Produkte denn als Bühne, um Geschichten zu erzählen. Zum Beispiel die Geschichte von Materialien, die durch Upcyling weitergesponnen wird.
Nun wird ein Teil der A10 zum Laufsteg. Vor zwei Jahren habe die Stadtverwaltung sie nach ihrem Traum-Ort für eine Schau gefragt. Bles’ Antwort ließ nicht lange auf sich warten: „Die Namen der Brands und Designer an den großen Autobahnschildern, die Models auf diesem riesigen Laufsteg – ich sah alles schon vor mir.“ Etwas Vergleichbares habe es noch nicht gegeben.
Weltweit überbieten große Marken einander gerne mit ungewöhnlichen Kulissen für ihre Schauen. Niemand setzte konsequenter auf dieses Konzept als Karl Lagerfeld. 2014 ließ er im Pariser Grand Palais einen Chanel-Supermarkt errichten, 2017 startete eine Rakete zum Finale, 2018 schritten Models durch die Brandung eines künstlichen Strandes. Und schon 2007 ließ er für Fendi Models über die Chinesische Mauer laufen.

Aufmerksamkeit ist damit garantiert. Vor Ort dabei sein kann bei solchen Ereignissen aber nur, wer eine Einladung erhält, weil er oder sie genug Einfluss oder Kaufkraft hat. Das passt zum exklusiven Nimbus der Luxusmode – der aber auch dazu beiträgt, dass Mode oft als dekadente Oberflächlichkeit abgetan und ihre kulturelle Bedeutung übersehen wird.
Nur selten öffnet sich diese Welt dem breiten Publikum. Das passiert zum Beispiel einmal im Jahr in London, bei der Verleihung der British Fashion Awards. Karten für das Event in der Royal Albert Hall sind ab circa 35 Euro zu haben. Auf der Bühne stehen Stilgrößen wie Tom Ford und Anna Wintour; Musikstars wie Blondie und Sam Smith treten auf, das Publikum auf den Rängen feiert mit Plastik-Champagnerflöten in der Hand. Die einen in Robe, die anderen mit Rucksack.
Die Idee, Entwürfe junger Designer auf dem Autobahnring einem breiten Publikum zu zeigen, begeistert auch Borre Akkersdijk, den Gründer des Labels Byborre. Für die Schau auf dem Ring begleitete er als Mentor den Designer Joone Joonam und sagt über ihn: „Er verwandelt historische Kleidungsstücke in zeitgenössische Kleidung, würdigt die Poesie des Handwerks und hinterfragt gleichzeitig Normen.“ Jede Naht erzähle eine Geschichte. Die Schau sei „eine großartige Möglichkeit, den Menschen von Amsterdam Mode zugänglich zu machen“.
Und die Zugänglichkeit ist noch nicht einmal eine Momentaufnahme: Bis Dezember können 18 der 60 auf der Autobahn gezeigten Looks in der Öffentlichen Bibliothek von Amsterdam ausgeliehen werden, als wären es Bücher. Ein „Fashion Rental Program“ macht es möglich. Die Geschichte dieser Kleider wird also weitergesponnen.