Ein langer Montag in einem Fotostudio in München. Es geht so los wie häufig im Leben von Tijen Onaran. Die Digitalunternehmerin wird geschminkt und frisiert. Als Rednerin beschäftigt sie sich mit dem Zustand unserer Gesellschaft. Feminismus ist ihr Spezialgebiet. Es ist für sie kein Widerspruch, mit der Parfümeriekette Douglas einen Lippenstift in der Farbe Tijen Red herauszubringen, wie im vergangenen Jahr. Von Mattel gibt es eine Tijen-Onaran-Barbie. Aber anstatt auf einem Podium oder in einer Talkshow zu reden, steht die Neununddreißigjährige heute vor der Kamera der Fotografin dieser Strecke. Bleibt häufig regungslos in der Pose, damit die analogen Bilder nicht verwackeln, schaut minutenlang ins Leere, hält das Lachen. Ins Reden kommt sie später, beim Interview.
Frau Onaran, Sie erwähnen häufig, dass Sie gerne viel arbeiten. Warum ist es Ihnen wichtig, das zu betonen?
In meinem Fall hieß Arbeit Aufstieg, und ich finde, wir müssen zurück zu dem Narrativ, dass Arbeit Spaß machen kann. Wir diskutieren gerade vor allem unter der Prämisse, dass Arbeit keinen Spaß macht. Es gibt gar nicht die Option, dass Arbeit auch schön sein kann. Stattdessen sprechen wir darüber, wie belastend Arbeit ist. Das nervt mich. Dabei gibt es doch auch das positive Narrativ über Arbeit.
Waren Sie immer schon am Arbeiten?
Ja, ich habe nie nicht gearbeitet. Mit 14 saß ich auf dem Flohmarkt. Da habe ich von meinem Vater Verhandeln gelernt. Er hat mir erklärt, wie ich mir ein Limit setze, bis wohin ich mit dem Preis entgegenkommen kann. Da habe ich schon gemerkt: Cool, wenn ich etwas verkaufe, dann nehme ich etwas ein, das ist für mich. Weiter ging es mit Flyerverteilen, Aushelfen im Kosmetikgeschäft. Mein Studium habe ich mir mit drei, vier Jobs verdient, Catering, Verkaufen, Studien in Krankenhäusern machen.
Ihre Mutter hat in einem Schmuckgeschäft als Verkäuferin gearbeitet. Sie beschreiben in Ihren Büchern, wie Sie danebensaßen. Was haben Sie damals von ihr gelernt?
Ich hab’s geliebt. Die Zeit hatte ich mit meiner Mutter zusammen. Wenn sie nach Hause kam, genau wie mein Vater, dann war sie müde vom Arbeiten, und dann wollte ich sie nicht nerven. In dem Schmuckladen habe ich mich hinter die Theke gestellt und meine Mutter beobachtet. Da habe ich viel über Menschen gelernt. Zunächst einmal ist sie jedem auf demselben Level begegnet. Es war egal, ob jemand reich wirkte oder nicht. Und sie hat es geschafft, jedem so zu begegnen, wie die Person es mochte. Es gab Frauen, die haben sich ein Schmuckstück für sich selbst gegönnt. Das hat sie gleich gescannt und verstanden. Dann gab es die Klassiker, älterer Mann kauft seiner jüngeren Freundin etwas, aber auch dieser Konstellation ist sie nicht bewertend gegenübergetreten. Sie hat es geschafft, zu verkaufen, ohne etwas anzudrehen. Das ist eine Kunst. Für mich ist das eine Form der Ästhetik: Menschen zu begeistern.
Sie und Ihr Ehemann waren jahrelang beruflich ein Team. Wie arbeitet man weiter mit Freude zusammen, wenn man sich, wie Sie beide gerade, getrennt hat?
Das Wichtigste ist, dass man Regeln definiert und einen Fahrplan entwickelt. Wir haben uns dafür mit externer Hilfe unterstützen lassen. Wir haben überlegt: Wie sehen Regeln aus? Was tut dem einen gut? Was dem anderen? Wie viel Austausch braucht es? Wann kann der eine Dinge auffangen, wenn es dem anderen nicht gut geht? Aber das kann nur mit Wertschätzung füreinander funktionieren. Für uns ist klar, dass wir gemeinsam unfassbar stark sind. Das führt uns in emotionalen Phasen vor Augen, dass wir die Superpower nur gemeinsam haben.
Gibt es auch eine nicht arbeitende Tijen Onaran?
Ja, und die brauche ich, um kreativ zu bleiben für meine Vorträge. Da benötige ich anderen Input, und den bekomme ich, wenn ich nicht so durchgetaktet bin. Ich bin am kreativsten, wenn ich mit meinen Hunden durch die Gegend laufe.
Wie viele Hunde haben Sie?
Zwei, Labrador-Mix und Cocker Spaniel, Pauli und Leo. Die sehe ich viel zu selten, aber wenn ich mit ihnen unterwegs bin, dann dulden sie auch nicht, dass ich etwas anderes mache. Ich kann dann nicht auf mein Handy schauen, ich kann dann auch keinen Podcast hören. Hunde spüren, ob du dich voll auf sie konzentrierst oder nicht. Das ist mein Yoga, dann muss ich komplett in dem Moment sein. Normalerweise ist es so: Ich poste auf Social Media, schreibe eine Whatsapp, mittendrin telefoniere ich, und zwischendurch gehe ich meine Keynotes durch. Das erlauben meine Hunde so gar nicht.
Wie viel Zeit verbringen Sie mit Ihren Hunden?
Zu wenig. Ich versuche, einmal am Tag auf jeden Fall mit ihnen rauszugehen, in der Regel morgens.
Da wir vorhin über Ihre Nebenjobs als Jugendliche sprachen, was für eine Schülerin waren Sie?
Ich war superschlecht. Ich musste immer viel lernen, um gut zu sein. Ich gehörte nicht zu denen, die nicht gelernt haben, und, huch, eine Eins bekamen. Wenn ich ein schlechtes Gefühl hatte, wusste ich, dass es daraus resultiert, schlecht vorbereitet gewesen zu sein. Ich habe in Karlsruhe ein katholisches Mädchengymnasium besucht und hatte da so viel Spaß mit meinen Freundinnen. Nur der Unterschied war, dass sie am Wochenende gelernt haben, und ich habe etwas anderes gemacht, bin in die Stadt gegangen, habe gearbeitet. Aber ich habe mich immer mit meinen Lehrerinnen und Lehrern verstanden. Ich habe es dann schon geschafft, sie für mich zu begeistern, obwohl ich nicht gut war. Deswegen haben sie mir keine besseren Noten gegeben. Aber ich denke, ich war trotzdem bei denen beliebt.
Viele junge Menschen wissen nach der Schule nicht, was sie machen sollen. Wie war das bei Ihnen?
Ich wusste gar nicht, was ich machen wollte. Das war der absolute Horror. Als ich das Abi-Heft durchgegangen bin, stand bei allen etwas Konkretes: Ärztin werden, Jura studieren, bei einigen stand auch Familie gründen. Bei mir stand nichts. Ich habe dann mit meinem Vater diskutiert. Und er sagte, mach doch das, was üblicherweise Männer machen würden. So kam ich auf die wahnsinnig verrückte Idee, VWL zu studieren, obwohl ich im Mathe-Abi nur einen Punkt hatte. Da saß ich in den ersten Vorlesungen in Heidelberg und habe gedacht, was ist das für eine Sprache, die sie sprechen? Ich verstehe sie nicht. Ich hatte in Mathe nach der zehnten Klasse abgeschaltet. Das hat nicht funktioniert. Ich wurde exmatrikuliert. Aber ich wollte unbedingt irgendetwas beenden. Ich wechselte zu Politik, Geschichte und Öffentlichem Recht und machte meinen Magister. Und ich muss sagen, im Studium war ich sehr gut. Ich war gefühlt 24 Stunden am Tag in der Bibliothek und habe mit 1,7 abgeschlossen.
Haben Sie sich da so reingehängt, weil Sie Angst hatten, noch einmal den Anschluss zu verlieren, wie damals in Mathe nach der zehnten Klasse?
Ich wollte es mir selbst und anderen beweisen, und mir war klar, die zweite Chance ist die letzte. Eine dritte wird es nicht geben. Die dritte Chance, noch einmal ein Studium zu beginnen, hätte so viel Aufwand bedeutet, ich hätte in eine andere Stadt ziehen müssen, und ich war zu dem Zeitpunkt auch schon in der Politik. Das heißt, der Druck von anderen war auch groß, weil alle anderen meinem Eindruck nach wahnsinnig gut in dem waren, was sie machten. Selbst wenn das gar nicht stimmte.
Wie sind Sie zur FDP gekommen?
Ich war damals politisch interessiert und habe überlegt, wo ich in meiner Heimatstadt Karlsruhe hinkonnte. Links und rechts entfiel. Bei der FDP hat das Programm, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen und nicht darauf zu warten, dass jemand etwas für einen regelt, gut zu meiner Philosophie gepasst. Ich habe auch nie darauf gewartet, dass jemand etwas für mich regelt.
2006, damals waren Sie 20 Jahre alt, kandidierten Sie für den baden-württembergischen Landtag, zogen zwar nicht ein, aber begannen, für Silvana Koch-Mehrin zu arbeiten. 2009 verantworteten Sie dann Guido Westerwelles Social-Media-Auftritt. Wie sah der aus?
Ich habe seinen Facebook-Account verwaltet. Er hat jeden Tag unzählige Nachrichten bekommen, und die Prämisse war, dass jede beantwortet wird. Ich habe Bilder von Wahlkampfauftritten gepostet und das gemacht, was man heute Community Management nennen würde, habe auf alle reagiert, von Heinz, der schrieb, „Mensch Guido, muss das sein, dass du auf Männer stehst“, bis hin zu Silke, die sagte, „Herr Westerwelle, Sie sprechen das aus, was sich viele nicht trauen“. Wenn ich mir alles, was ich damals gelesen habe, zu Herzen genommen hätte, dann wäre mir das schwergefallen. Diese natürliche Distanz hilft mir heute. Das klingt vielleicht paradox, denn ich bin leidenschaftlich in dem, was ich tue, aber das ist so gemeint: Wenn morgen alle Stricke reißen und nichts mehr funktioniert, dann weiß ich, dass es trotzdem für mich weitergeht. Ich habe schon einmal etwas aufgebaut. Das lebe ich für mich. Meine Arbeit macht viel von meinem Leben aus. Aber ich definiere mich nicht über meine Position. Ich könnte morgen mit etwas Neuem anfangen, und ich weiß, dass ich meine Fähigkeiten nutzen könnte. Das ist für mich viel mehr wert.
So etwas haben Sie erlebt: Sind Sie über die schwarz-gelbe Koalition im Bundespräsidialamt gelandet?
Ich war damals noch im Studium und habe mich ohne FDP-Ticket auf ein Praktikum beworben. Das habe ich ein halbes Jahr gemacht und meine Magisterarbeit über den Bundespräsidenten geschrieben.
Zu der Zeit von Christian Wulff.
Daraus wurde eine befristete Stelle im Grundsatzreferat. Ich habe die Themen rund um Integration betreut, dafür gab es dort niemanden.
Damals sagte Christian Wulff, der Islam gehöre zu Deutschland. Das war für Sie als Tochter türkischer Einwanderer eine Chance.
Ich wollte es unbedingt. Für mich wäre es eine feste Referentinnenstelle gewesen. Dann musste er zurücktreten. Es gab die Stelle in Aussicht, sie war schon im Haushalt verankert. Dann kam Joachim Gauck und hat jemand anderes darauf gesetzt. Ich war so nah dran.
Wie haben Sie sich in dem Moment gefühlt?
Das war furchtbar. Das war das erste Mal, dass ich so krass auf etwas hingearbeitet hatte. Da war ja erst das Praktikum, dann die Projektstelle, und dann wäre diese feste Referentinnenstelle gekommen. So kurz vor dem Ziel bin ich gestolpert. Für viele Menschen hat der Rücktritt von Christian Wulff den Jobverlust bedeutet. Das war ein Aha-Moment. An dem Punkt habe ich erkannt, dass ein starkes Netzwerk wichtiger ist als ein Job, den es womöglich irgendwann nicht mehr gibt.
Haben Sie niemals Selbstzweifel?
Das denkt man vielleicht nicht, wenn man von außen draufschaut. Aber wie oft frage ich mich, ob ich gut genug bin, um bei „Höhle der Löwen“ zu sitzen. Und diese Erwartungen, die immer größer werden, wenn man bekannter wird. Je erfolgreicher ich werde, umso mehr Selbstzweifel habe ich auch.
Obwohl man zugleich immer mehr Bestätigung erfährt?
Aber die Bestätigung führt auch – zumindest in meinem Fall – zu mehr Reflexion. Ich bin nicht die Abgebrühte, die sich denkt, dass sie toll ist, sondern eher, dass jetzt noch mehr Leute hinschauen. Vorher war das ein kleiner geschützter Bereich. Jetzt wird über mich berichtet, und wie die Wahrnehmung ist, habe ich häufig nicht mehr selbst in der Hand. Selbst wenn mir viele sagen, dass ich eine Inspiration für sie sei, dann führt das dazu, dass ich mir noch mehr Gedanken mache: Sind die Worte die richtigen? Ist mein Buch gut genug?
Hat sich Ihr Verhältnis zu Ihrem Äußeren verändert?
Ich fühle mich jetzt total wohl. Mode und Beauty sind für mich Werkzeuge, um verschiedene Facetten von Tijen zu zeigen. Die Kleider, die ich beim Shoot getragen habe, hätte ich normalerweise nicht so von der Stange genommen, aber ich lasse mich darauf ein. Ich halte viele Eindrücke in meinem digitalen Tagebuch fest, und wenn ich mir Fotos von vor drei Jahren anschaue, dann denke ich, dass das eine komplett andere Person ist. Für manche klingt das banal, aber mir macht es Spaß, mir Gedanken über meine Hosenfarbe zu machen. Auch das schafft Distanz zu meinem Job. Wenn man sich für Diversity einsetzt, ist vieles ernsthaft. Du fragst: Warum habt ihr einen Gender-Pay-Gap? Wie sieht es aus mit schlimmen Erfahrungen in eurem Unternehmen? Ohne Leichtigkeit würde mein Leben viel Tristesse enthalten.
Und Lippenstift macht einen Unterschied?
Vor ein paar Jahren hätte ich Nein gesagt. Aber es ist bemerkenswert, wie politisch Lippenstift und das Äußere in Bezug auf die Wirksamkeit sind. Ich finde es toll, wenn Frauen posten, dass sie zu einem wichtigen Gespräch bunte Klamotten getragen haben. Für mich ist Lippenstift ein Ritual, wenn ich mich morgens fertig mache. Dieser Moment gehört mir. Ich trage den auf und weiß, ich bin präsent. Und sobald ich nach Hause komme, mache ich alles runter, ziehe meine Schlunzklamotten an. Auch das gehört zu dem, was mich ausmacht: Mir macht das alles Spaß, aber ich bin nicht abhängig davon. Der Lippenstift, das Styling sind Teile meines Jobs. Zu Hause hätte ich darauf keine Lust. Da muss ich mich stärker sehen. Da setze ich meine Brille auf, schaue Netflix, mache auch einmal nichts.
Und morgens gehen Sie dann joggen?
Ich gehöre nicht zum Fünf-Uhr-Club. Die erste Runde gehört meinen Hunden, die zweite mir, und während des Laufens gehe ich Vorträge durch. Ich höre dabei auch Musik. Ich laufe aber total langsam, schaue, dass ich meine fünf Kilometer schaffe. Ich überlege mir dann einen ersten und einen letzten Satz, gehe durch, welche Geschichte ich erzählen möchte und überdenke Dinge. Bei Diversity und Geschlechtergerechtigkeit kann man mich nachts wecken, und ich kann unvorbereitet einen Vortrag halten. In den politischen Fragen ist das eine andere Nummer, und das hat mich, obwohl ich politisch bin, neu herausgefordert. Wenn ich mit Peter Altmaier auf einem Podium sitze, der mich kaum reden lässt, muss man es schaffen durchzukommen.
Wie machen Sie das?
Mit einer Form von Unerschrockenheit, mit Selbstbewusstsein, bei dem ich mich selbst frage, woher ich das habe, einer gesunden Form der Selbstüberschätzung und Gelassenheit. Ich habe kein Parteiprogramm, aber ich habe für mich definiert, zu einer Person werden zu wollen, die der Politik die Gesellschaft erklärt und der Gesellschaft die Politik.
Fotos: Amira Fritz
Styling: Romina Mann
Haare: Dirk Walther
Make-up: Laura Stadler
Foto-Assistenz: Dominik Xaver und Alexandra Haug
Styling-Assistenz: Jan Fenske
Fotografiert am 29. April 2024 in München.