Was für ein Viech ist der Mensch?

Dieses Haus nimmt sich, eingefangen in sonnendurchfluteten, fein kadrierten Bildern, oberflächlich aus wie der perfekte Ort für eine kleine familiäre Utopie. Die Räume hell und schön mit großen Fenstern, die teils als Türen fungieren, im Garten, der an ein Waldstück angrenzt, tanzen die Schmetterlinge und in der Dunkelheit die Glühwürmchen. Auch der Badesee ist nicht weit. Doch der Schein trügt, denn auch wenn hier nichts eindimensional ist, wie überhaupt noch nie in der eigensinnigen Kinematographie der Schweizer Zwillingsbrüder Ramon und Silvan Zürcher: Was unter der Oberfläche lauert und Schicht um Schicht freigelegt wird, hat es in sich. Mit „Der Spatz im Kamin“ schließen die Zürchers ihre Tiertrilogie ab und lassen ihr Kino der produktiven Gegensätze ins Extreme kippen.

Durch die Idylle rennt, schlurft und ätzt eine Familie. Karen (Maren Eggert), in deren Elternhaus wir uns befinden, manövriert mit Kälte und giftigen Spitzen gegen jeden durch das Haus. Ihr Mann Markus (Andreas Döhler) schaut wie ein Straßenköter drein, ist liebevoll mit den Kindern und pflegt, ohne es groß vor der Frau zu verstecken, eine Affäre mit Nachbarin Liv (Luise Heyer). Teenager-Tochter Johanna (Lea Zoë Voss) rebelliert, raucht und gibt sich sexuell altklug. Und ihr Bruder Leon (Ilja Bultmann), ein Opfer von Mobbing in der Schule, kocht und backt in einem fort.

Verbale Boshaftigkeiten in hoher Taktung

In besonderer Aufregung ist die Familie, weil Markus’ Geburtstag im Garten gefeiert werden soll und zu diesem Anlass auch Karens Schwester Jule (Britta Hammelstein) mit ihrem Mann Jurek (Milian Zerzawy), der Tochter und dem Neugeborenen zu Besuch gekommen ist. Angekündigt hat sich noch Karens und Markus’ älteste Tochter Christina (Paula Schindler). Auch im „Spatz“, mit dem Ramon sein Drehbuch verfilmt und Silvan Zürcher die Produktion übernommen hat, zeigen die Brüder eine Familie zwischen Alltäglichem und Ausnahmezustand. Ihr Modus ist seit jeher so eigen- wie einzigartig, ein poetischer Blick auf das von familiären und gesellschaftlichen Normen domestizierte menschliche Dasein.

Das gefeierte Debüt „Das merkwürdige Kätzchen“ folgte der Zusammenkunft einer unübersichtlich großen und zusammengewürfelten Familie. Während das titelgebende Kätzchen zwischendurch Milch aus einem Glas schleckt, offenbaren sich diverse von mehr als latenter Gewalt gezeichnete zwischenmenschliche Dynamiken. „Das Mädchen und die Spinne“ erzählte dann anhand eines Umzugs von der alles andere als einfachen Ablösung zweier Freundinnen und spannte ein komplexes Netz zwischen den Familienmitgliedern und Freunden. Mit dem „Spatz“ manifestiert sich noch deutlicher, was die Filme der Brüder immer schon auszeichnete: seine Entrückung des vermeintlich Banalen durch einen modernen poetischen Realismus. Im „Spatz“ wird das Thema der Befreiung metaphorisch aufgeladen und zugleich radikal konkretisiert.

Viele in der Familie, manche mehr, manche weniger, sind Gefangene gegenwärtiger oder vergangener Entwicklungen. Das äußert sich oberflächlich in verbalen Boshaftigkeiten, die in hoher Taktung und expliziter als in den Vorgängerfilmen ausgeteilt werden. Die krawallige Karen gibt ihren Kindern allen Anlass, sie zu hassen, und „erntet“ die Früchte. „Mach das noch mal, und ich fackel deinen Kleiderschrank ab“, droht Johanna, weil ihre Mutter ein Loch in eins ihrer Oberteile gemacht hat. Es gibt keine Tabus in der Sprache, man beschimpft sich als gestört oder erfindet Geschichten von herausgeschnittenen toten Zwillingen, denen, weil sie im Müll gelandet sein sollen, immerhin das Haus und Mutter Karen erspart geblieben seien.

Mit dem Absurden liebäugelnder Horror

Unter den pittoresken Bildern lauert ein von Menschen und Tieren bevölkerter, auch mit dem Absurden liebäugelnder Horror, in dem Liebe und (verbale) Überschreitungen nahe beisammen liegen und zur Sublimation auch mal eine Hand im Eintopf verbrüht oder die Katze in die Waschmaschine gesteckt wird. Mit dem Moment, in dem sich neben unmittelbaren Gemeinheiten herausschält, was sich in Karens und Jules Kindheit hier ereignet hat, kapert immer stärker auch das Surreale die Erzählung. In einer furiosen Sequenz kippt das Innere vollends nach außen: Jemand raspelt sich die Hand bis zum Handgelenk an der Gemüsereibe ab, und für Karen steht die Welt in Flammen.

Ramon Zürcher verheiratet in „Der Spatz im Kamin“ Ingmar Bergman mit David Lynch zum ebenso abgründigen wie unterhaltsamen Psychogramm einer Familie, vor allem aber einer Frau, in die sich transgenerationale Traumata und Sehnsüchte eingeschrieben haben. Wer frei sein will wie der Spatz, der hier tatsächlich einmal aus dem staubigen Kamin geschossen kommt, muss was dafür tun. „Bis dahin lasse ich keine Fessel zu, keine einzige!“, sagt Johanna, deren Gelenke aufgrund einer Krankheit zunehmend versteifen, einmal – ein treffender Imperativ auch für diese packende filmische Entfesselung.