Warum Wanderstiefel so glücklich machen

Es fing im Sommer vor drei Jahren an, als ich mir durch einen Sturz vor einem Ber­liner Straßencafé das linke Knie brach. Freudianischerweise hatte ich genau in der Sekunde, bevor mein Fuß an der leicht erhabenen Steinplatte des Bürgersteigs hängen blieb, an eine verlorene Freundschaft gedacht.

Zwei, drei Monate später, mittlerweile war es Herbst geworden, kaufte ich mir dann zum ersten Mal in meinem Leben Wanderschuhe. Nicht, um darin Sport zu treiben, obwohl der junge Verkäufer mir erklärte, dass dieses Modell für das Elbsandsteingebirge wohl ausreichen würde. Nein, ich wollte mich schlicht gegen mein eigenes Stolpern wappnen, mich sicherer fühlen beim Laufen. Statt der Sicherheit habe ich etwas anderes bekommen.

Vermutlich kennen Sie dieses Gefühl: Sie verlassen ein Geschäft und ahnen, dass das Kleid, die Hose oder eben die Schuhe, die Sie gerade erworben haben, Ihr Leben verändern werden. Sie wissen zwar noch nicht genau, wie, aber Sie ahnen, dass dieses Kleidungsstück oder dieser Schuh mehr sein wird als nur eine weitere Vokabel im Wortschatz ihrer Garderobe. Das, was Sie aus dem Geschäft heraustragen oder am besten gleich anziehen, ist gewissermaßen ein neuer Text oder wenigstens dessen erster Satz.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Wovon die Geschichte am Ende handeln wird, kann Ihr Geheimnis bleiben.

Rihanna performte in Salomon-Trekking-Shoes für den Superbowl

Ein Paar gewöhnliche Wanderschuhe also. Gefunden in einem kleinen Outdoor-Laden in Berlin, dessen Betreiber sich mitnichten für Trends interessieren, die in der „Vogue“ oder der „Elle“ besprochen werden. Die Louis-Vuitton-Laureate-Desert-Boots sucht man hier vergebens; Trendsetterin Donna Wallace spazierte in ihnen 2016, damals als Redakteurin der britischen „Elle“, zur Londoner Fashion Week. Auch den hochgeschnürten Jacquemus-Wanderstiefel, den eine spärlich bekleidete Kendall Jenner, in einer Hängematte liegend, 2021 auf Instagram bewarb, gibt es im Laden nicht. Dass der Trend zum Wanderschuh längst auch Sache der Mode ist, erkennt man allerdings selbst hier. Einige Wanderschuhe im Schaufenster tragen ungewöhnlich leuchtende Farben.

Um es deutlich zu sagen: An tritt­sicherem Schuhwerk fehlt es spätestens seit 2018 auf den Fashionseiten nicht. Trotzdem sticht das Jahr 2023 im Trendverlauf etwas heraus. In jenem Jahr präsentierte sich Hanwag, Hersteller von Berg-und Wanderschuhen, erstmals auf der Pariser Fashion Week. Rihanna performte in Salomon-Trekking-Shoes für den Superbowl. Es lässt sich denken, wie begehrt die Schuhe danach weltweit waren. Luxusmarken wie Chloé, Gucci und Givenchy boten mit, und die maßgeb­lichen Models und Influencer zeigen ihrem Millionenpublikum seither quasi nonstop, mit welcher Art Oberbekleidung der Wanderschuh zeitgemäß zu kombinieren ist.

Mein erstes Paar habe ich schnell runtergetragen

Auf keinen Fall darf es irgendwie nach Anstrengung oder geplanter Aktivität aussehen. Viel Bein wäre gut, außerdem feingliederiger Schmuck an den Händen oder Handgelenken. Für den Herbst und Winter wäre das natürlich anzu­passen, ich fürchte, mit Dingen wie Netzstrümpfen und seitlich zu öffnenden Sporthosen. Die gültige Losung ist aktuell nicht Wander-, sondern Winterschuh, was ich als Scheinmanöver betrachte, mit dem die Mode darauf besteht, sich offiziell nicht zu wieder­holen.

Ich habe da überhaupt kein Problem. Weiblich, Ende 50. Mein erstes Paar Wanderschuhe habe ich schnell runtergetragen. Mein zweites Paar, inzwischen auch nicht mehr jung, gleicht dem ersten: braunes Leder, Goretex-Mem­bran, fersenhoher Schafft und eine angemessene Sprengung; die Sohle ist an den Fersen also dicker als an den Fußspitzen. Der Fuß rollt besser ab, und das Ein­fädeln an Steinkanten wird, wenn nicht völlig verhindert, doch immerhin entscheidend erschwert.

Gipfel des Glücks: Kein Wunder, dass Wanderschuhe in Mode sind. Praktisch sind sie sowieso.
Gipfel des Glücks: Kein Wunder, dass Wanderschuhe in Mode sind. Praktisch sind sie sowieso.Getty

Bevor ich die neuen Schuhe anzog, bedankte ich mich bei den Vorgängern. Der Verkäufer schaute betreten. Soll er. Für ihn gebe ich gern die komische Alte, denn abgesehen von einer Skijacke in Yves-Klein-Blau sind meine Wanderschuhe das Lebensbejahendste, was mir in Sachen Mode jemals passiert ist.

Ich bin mit ihnen aus der Corona-Isolation herausgelaufen. Die Angst (vor Menschengruppen, Krankheiten, dem Tod meiner Mutter) hat mehr und mehr die Lust verloren, an mir zu nagen. Sie mag meine Wanderschuhe nicht. Sie sind ihr zu optimistisch, zu stabil, zu neugierig darauf, wie es hinter der nächsten Anhöhe, der nächsten Kurve aussieht.

Gehen, wohin man will. Wann man will. So lange man will. Für Frauen war das nie selbstverständlich, und immer noch gäbe es unentwegt davon zu berichten. Doch es soll hier um die Freude gehen, um den Hunger nach Freiheit, die beide, wie ich finde, mit den Jahren intensiver werden.

Wir wandern gegen den Verfall der eigenen Kräfte

In Wäldern, Städten, in Parks und auf Feldwegen sind mir Frauen, auch meines Alters, begegnet, sind mir in Wanderschuhen entgegenkommen. Einige hatten einen Gehstock dabei, andere ei­nen Rucksack. Eine mir unbekannte Wanderfreundin trug eine Shopping Bag um die Schultern, von der ich im Vorbeigehen dachte, es könnte die Garden-Party-Tasche von Hermès gewesen sein.

Gelegentlich tauschten wir ein paar Sätze, fast jedes Mal ein Lächeln, so als würden wir uns in der anderen wiederkennen. Auch die andere wird ihre Verletzungen haben. Solche an den Knien und anderswo. Auch sie wird das Laufen vermutlich spannender finden als früher, womöglich weil die Vorstellungen vom eigenen Weg klarer werden, unabhängiger von den falschen Adjektiven, mit de­nen man vielleicht viel zu lang herumgestolpert ist. Ihr Lächeln wünscht „Gute Reise“.

Wird das Laufen mit den Jahren spannender? Unsere Autorin ist jedenfalls gerne in Wanderschuhen unterwegs.
Wird das Laufen mit den Jahren spannender? Unsere Autorin ist jedenfalls gerne in Wanderschuhen unterwegs.Picture Alliance

Nein, es geht dabei nicht um Sport und weite Entfernungen. Auch sind dringende Probleme mit den Füßen nicht das eigentliche Thema; mag Gen Z das ruhig denken, wenn eine Frau Ende 50 selbst im Sommer die U-Bahn in Wanderschuhen betritt. Ich verstehe das. Wer käme beim Jungsein auf den Gedanken, dass ältere Frauen in Wanderschuhen anderes im Sinn haben könnten, als aus der Not eine Tugend zu machen. Nicht wahr? Wir wandern gegen den Verfall der eigenen Kräfte. Manchmal bin ich versucht, böse zu werden und „Warte nur“ zu sagen, „Morgen bist auch du schon alt, das geht ziemlich schnell“.

Das Lächeln meiner Altersgenossinnen genügt, um mich wieder daran zu erinnern, wie albern und blöd das wäre. Jungsein ist super. Unsere Wanderschuhe wollen nicht das Gegenteil beweisen. Sie sind keine Lückenbüßer, sondern höchstens der Einsicht geschuldet, dass alles im Leben vergänglich, oft schwierig und manchmal gerade deshalb besonders berührend ist.

Mit Sentimentalität hat das nichts zu tun. Von der japanischen Ästhetik lässt sich das lernen. Sie hat gleich mehre Prinzipien, welche die Verletzung, die Erfahrung von Brüchen ins Zentrum stellen. Eines davon umreißt die Schriftstellerin und Japankennerin Amélie Nothomb in ihrem Buch über eine Reise in das Land ihrer Kindheit („L’impossible retour“), das vergangenes Jahr auf Französisch erschienen ist.

Wo geht es zum Gipfel des guten Geschmacks?

Der Begriff dazu: „Shibusa“, womit im Japanischen zurückhaltende Eleganz gemeint ist. Einen braunen Kimono tragen, eine bittere Kakifrucht essen, Matcha aus einer angeschlagenen Schale trinken, altern, bis man zerfurcht aussieht wie der Stamm eines Baums, alles Aufblitzende und Schillernde ignorieren. Das alles könnte zum Gipfel des guten Geschmacks führen. Für mich ist dieser Berg leider etwas zu hoch, aber die Idee, dass nicht das optimierte Ego, sondern das Angegriffene, vermeintlich Einfache unsere Aufmerksamkeit verdient, wäre mindestens ein Innehalten wert. Die Mode weiß, wovon die Rede ist, und spricht von „Wabi-Sabi“, womit – ganz ähnlich – die Lehre des Unvollkommenen gemeint ist.

Das Prinzip ist eng mit Shibusa verwandt und hat ebenso die Erfahrungen des Lebens, inklusive seiner Verletzungen, im Blick. Was ist Schönheit? Wabi-Sabi antwortet mit Asymmetrien, mit Nähten und Schnitten, die einem Gedanken oder einer Erinnerung folgen. In der Mode Rei Kawakubos und Yohji Yamamotos, aber auch in den Arbeiten Martin Margielas und der „Antwerp Six“ lässt sich das von den Achtziger­jahren an wunderbar nachverfolgen. Bis heute, wobei ich nicht überrascht wäre, wenn das Interesse in unseren Tagen wieder deutlich zunähme. Yamamotos Sommerkollektion von 2024 wurde als seine jüngste „Ode an Wabi-Sabi“ be­titelt (die Plattform „Say Who“) und ein offener „Wabi-Sabi-Mantel“ der Marke Zara von der „Elle“ zum Herbst-Trend 2025 ernannt. Gern würde ich die Wanderschuhe mitnehmen.

Zwar habe ich ein wenig Sorge, ob sie sich mit der „puren Eleganz“ („Elle“) des Zara-Mantels vertragen werden, Wabi-Sabi aber können sie gut: Je länger sie draußen herumlaufen, desto edler werden sie. Felsen, Erde, Regen, Sand prägen sich ein, schmirgeln jede Perfektion von ihnen ab. Verwandeln das Glatte in fein zerfurchte Patina. Was soll ich sagen? Ich hoffe, unser gemeinsamer Weg geht noch weit.