In einem hellen Klassenraum im ersten Stockwerk der Tammela-Gesamtschule im finnischen Tampere sitzen Fünftklässler an ihren Laptops. Sie sollen Informationen über Handwerksberufe im Mittelalter im Internet suchen, dabei nicht nur Wikipedia benutzen und die gefundenen Quellen bewerten. Lehrerin Annika Takala läuft von Tisch zu Tisch. Bei einem Schüler hängt das Internet, ein anderer versteht die Aufgabe nicht so richtig, ein dritter weiß nicht, nach was er suchen soll. „Die Kinder lesen viel im Internet und müssen lernen, welchen Informationen sie trauen können“, sagt die Lehrerin.
In Finnland wird an Schulen und Vorschulen seit Jahrzehnten Medienkompetenz unterrichtet, auch gibt es eine nationale Strategie zum Thema. Das Vorgehen gegen Fake News und Desinformation hat im Land auch eine sicherheitspolitische Dimension. Einflussversuche Russlands sollen so aufgehalten werden.
Letztlich geht es bei dem Thema wie so oft in Finnland um das Überleben des kleinen Lands neben dem großen gefährlichen Nachbarn. Der kritische Umgang mit Information war schon während der schwierigen Jahre der Neutralität im Schatten der großen Sowjetunion zentral.
Finnische Kinder lesen immer weniger
Lange war man damit sehr erfolgreich. Kein anderes Land in Europa gilt als so resilient gegen Desinformation. Das geht aus dem europäischen Medienkompetenz-Ranking hervor, das europaweit regelmäßig erhoben wird. Doch auch in Finnland lesen Kinder und Jugendliche immer weniger, zudem sind sie in der hochgradig digitalisierten Gesellschaft stärker als früher irreführenden Inhalten ausgesetzt.
Nebenan in der sechsten Klasse in der Schule in Tampere ist deswegen heute Jukka Haveri zu Besuch. Früher fuhr der Sonderpädagoge mit einem Bus des öffentlichen Rundfunks zur Medienaufklärung an Schulen durchs Land, heute arbeitet er im Auftrag der Stadt. Haveri macht mit den Schülern kleine Medien-Projekte, etwa Filme, die sie selbst erstellen.
Die Idee dahinter: zu erfahren, wie Medien funktionieren, indem man selbst welche macht. So sollen die Schüler lernen, kritisch nachzudenken. Kinder und Jugendliche seien schließlich täglich Fake News ausgesetzt, so Haveri. Zuweilen sei die Arbeit schwierig, weil die Kinder oft eher Influencern glaubten als Lehrern.
Im Gleichschritt mit den nordischen Nachbarstaaten
Finnland hat im August ein Nutzungsverbot für Handys an Schulen eingeführt. Demnach dürfen Schüler ihr Handy nur noch mit Erlaubnis der Lehrkräfte herausholen. Etwa, wenn es im Unterricht gebraucht wird. Allerdings sind Handys an Schulen nicht grundsätzlich verboten. An manchen Schulen dürfen sie in den Pausen genutzt werden. Und je nach Schule liegen sie während des Unterrichts in einem eigens dafür vorgesehenen Schließfach oder einfach im Schulranzen.
Damit bewegt sich Finnland im Gleichschritt mit den nordischen Nachbarstaaten, die allesamt lange eine Vorbildrolle beim Thema Digitalisierung hatten. Schweden führt ab dem kommenden Jahr ein striktes Handyverbot an allen Schulen ein. Dort sollen die Mobilgeräte eingesammelt und nach Schulschluss zurückgegeben werden. Bisher entschied über ein Handyverbot jeweils der Schulleiter.
Auch in Dänemark wurde eine Vereinbarung getroffen, die die Schulen komplett „mobilfrei“ machen soll. Zudem sollen Bildschirme wieder stärker durch Bücher ersetzt werden.
Finnische Jugendliche sind fast sechs Stunden täglich online
Die Verbote sind eine Reaktion auf sinkende Schulleistungen und zu viel Bildschirmzeit bei Kindern. Finnische Schüler galten zu Beginn des Jahrtausends als Weltspitze bei den PISA-Studien. Nirgendwo sonst schnitten die Schülerinnen und Schüler besser beim Lesen ab, auch in Mathematik und Naturwissenschaften gehörten sie zu den Besten. Ganz anders die Situation in Deutschland. Dort wurde im Jahr 2000 bei der Lesekompetenz Platz 21 von 32 erreicht.

Nach diesem „PISA-Schock“ pilgerten deutsche Bildungspolitiker in den Norden, um vom finnischen Beispiel zu lernen. Doch auch wenn sie immer noch über dem OECD-Durchschnitt liegen, gingen die Ergebnisse im einstigen Musterland seitdem fachübergreifend zurück.
Das hat Forschern zufolge auch mit der Lesemotivation und dem Medienkonsum zu tun. Insbesondere bei Jungen gab es einen deutlichen Rückgang der Lesezeit – was wohl vor allem an Smartphones und sozialen Netzwerken liegt. Teenager in Finnland sind laut dem Statistikamt durchschnittlich fünf Stunden und 46 Minuten pro Tag online, bei den Zehn- bis Vierzehnjährigen sind es drei Stunden und 50 Minuten.
Handys ab der ersten Klasse
Fast alle Jugendlichen haben Forschern zufolge schon einmal künstliche Intelligenz genutzt. Selbst viele Zehnjährige haben schon Deepfakes erstellt, also scheinbar echte Fotos oder Videos, die von der KI generiert wurden.
In der Schule in Tampere steht draußen auf dem Flur ein Regal mit Büchern. Die würden kaum noch ausgeliehen, sagt die Lehrerin Takala. Der Rückgang der PISA-Ergebnis in Finnland habe auch mit den Handys zu tun, glaubt auch sie. Die Kinder läsen kaum noch Bücher. Und sie schafften einfach nicht mehr so viel Stoff wie früher. Die Welt sei heute eine andere, die Kinder hätten nicht mehr so viel Ruhe, seien weniger Druck gewöhnt, daher gehe alles sehr langsam voran.
Takala zufolge haben in Finnland so gut wie alle Kinder schon ab der ersten Klasse ein Handy. Gerade in den höheren Stufen würden fast nur noch digitale Lehrmaterialien genutzt. Oft müssten die Informationen im Internet gesucht werden. „Aber es wäre gut, wenn die Werkzeuge der Schüler nicht nur Wikipedia und künstliche Intelligenz wären.“
Die Einschränkung der Nutzung von Handys begrüße sie, sagt die Lehrerin. „Die Richtung ist gut.“ Jetzt spielten die jüngeren Kinder in der Pause wieder miteinander. Die älteren aber dürfen ihre Handys in der Pause nutzen. Das sei unheimlich schwer zu kontrollieren. Sie hätte sich ein weitergehendes Verbot gewünscht. Teenager bräuchten klare Regeln. Handynutzung an der Schule nur zu bestimmten Zeiten oder für bestimmte Altersgruppen zu verbieten, funktioniere nicht.
An einem Wandschrank haben die Schüler unter die Frage, wie sie sich fühlen, Zettel aufgehängt. „Gut, aber auch ein bisschen ängstlich“, steht da, oder „gut und müde“, und „ich würde lieber länger Ferien haben“.
Wenige Kinder mit Migrationshintergrund
In Finnland gehen die Schülerinnen und Schüler neun Jahre lang auf eine Gesamtschule, dort werden sie sechs Jahre lang von einer Klassenlehrerin unterrichtet, die sich damit in unterschiedlichsten Themen auskennen muss. Ein anspruchsvoller Job, der aber sehr angesehen im Land ist. Takala ist seit 1996 Lehrerin an der Tammela-Schule. Schon als Kind auf dem Land habe sie sich aufgrund eines Heidi-Films in die deutsche Sprache verliebt, sagt sie. Später studierte sie in Koblenz. Lehrerin sei ihr Traumberuf.
Die fünfte Klasse unterrichtet sie bilingual auf Deutsch. Die Tammela-Schule bietet das als einzige in Tampere an. Englisch gibt es ebenfalls ab der ersten Klasse, ab der sechsten Klasse kommt noch Schwedisch dazu. Die meisten Kinder in der Klasse haben ein deutsches oder österreichisches Elternteil.
Die Schülerschaft an der Schule ist sehr homogen; Kinder mit einem Migrationshintergrund aus einem Land außerhalb Europas gibt es so gut wie keine. Das ist an vielen Schulen im Land so. In Finnland gibt es vergleichsweise wenig Migranten.
Auch das ist laut Forschern ein Grund für das gute Abschneiden bei den PISA-Studien etwa im Vergleich zu Ländern mit weniger Muttersprachlern in den Schulen. Doch sind die Zahlen der Migranten im vergangenen Jahrzehnt gestiegen – was als ein weiterer Grund für das nun schwächere Abschneiden bei PISA herangeführt wird.

Finnland ist – wie die anderen nordischen Staaten – eine recht egalitäres Land. Die sozialen Unterschiede im Land sind vergleichsweise gering. Eine gute Bildung, die sozialen Aufstieg ermöglicht, ist ein wichtiger Teil der nationalen Identität. Historisch wurde mittels Bildung Abstand zum russischen Reich genommen, dessen Teil das Land lange war. Auf die guten Schulen im Land ist man sehr stolz, die Schulen agieren weitgehend autonom, Lehrer sind hoch angesehen.
Weil sie Wissen und geistiges Licht unter die Leute bringen, nannte man sie früher „Kansankynttilä“, „Kerzen des Volks“. Damals gab es deutlich mehr Bewerber als Studienplätze. Heute ist der Zutritt einfacher und die Anforderungen sind geringer. Auch das könnte ein Teil der Erklärung für den Rückgang bei den PISA-Studien sein, heißt es von Pädagogen. Zudem nehmen die Unterschiede zwischen den Schülern zu.
Fragt man Bildungsminister Anders Adlercreutz, warum die PISA-Ergebnisse zurückgehen, verweist er vor allem auf eine verkürzte Aufmerksamkeitsspanne der Kinder und Jugendlichen. „Wir leben in einer digitalen Welt, in der wir in 15- oder 30-Sekunden-Clips mit Informationen überflutet werden. Das Gehirn ist nicht darauf eingestellt, ein oder zwei Stunden lang auf einem Stuhl zu sitzen und ein Buch zu lesen, Langeweile zu ertragen und sich länger auf eine Sache zu konzentrieren. Das ist ein allgemeiner Trend in der gesamten westlichen Welt, und Finnland ist keine Ausnahme“, sagt Adlercreutz beim Gespräch im Parlament in Helsinki.
Die Lesekompetenz sei der Faktor, der am stärksten darüber entscheide, wie man in allen anderen Tests abschneide. „Und auch die Kinder in Finnland lesen weniger als früher.“ Ein Grund dafür sei die Smartphonenutzung, sagt auch der Bildungsminister. Er verteidigt im Gespräch den finnischen Weg eines nicht vollständigen Handyverbots. Damit versuche man ein Gleichgewicht zu finden, so Adlercreutz. „Wir brauchen Bücher, aber wir brauchen auch digitale Werkzeuge, digitales Übungsmaterial.“ Kinder müssten digital kompetent sein.
Die ersten Ergebnisse des beschränkten Handynutzens an den Schulen seien ermutigend. „Lehrer sagen, dass die Pausen wieder sehr laut sind, weil die Kinder nicht vor ihren Handys sitzen, sondern diskutieren, spielen und Sport treiben“, sagt Aldercreutz.
