Warum manche Menschen schneller frieren als andere – selbst die Wissenschaft tut sich schwer – Gesundheit

Jan-Erik Siemens: Die Frage klingt so einfach, ist wissenschaftlich aber gar nicht so leicht zu beantworten. Da müsste ich ein wenig ausholen.

Bitte.

Der Nobelpreisträger David Julius hat mit seiner Arbeitsgruppe, in der ich auch mal als Postdoc gearbeitet habe, Anfang der 2000er-Jahre einen Rezeptor identifiziert, der maßgeblich an der Kältewahrnehmung beteiligt ist. Er trägt den kryptischen Namen TRPM8 und gilt als Hauptmediator für Kältesignale. Wenn Sie etwa mit der Hand eine kalte Autoscheibe berühren, führt die Aktivierung von TRPM8 in bestimmten Nervenzellen dazu, dass sich die Zellen depolarisieren. Das Signal wandert dann von der Fingerspitze über das Rückenmark bis ins Gehirn und wird dort verarbeitet. In einer Studie konnten wir zeigen: Wenn man bei Mäusen TRPM8 blockiert, reagieren sie auf viele Kältereize deutlich schlechter.

TRPM8 (Video: Jan-Erik Siemens)

Und beim Menschen?

Beim Menschen sieht man im Prinzip dasselbe System, womöglich nur komplexer. Es gibt Studien zur Wärme- und Kältewahrnehmung von Frauen und Männern; relativ gut belegt ist, dass Frauen im Mittel schneller frieren als Männer. Man geht davon aus, dass Hormone hier eine wesentliche Rolle spielen. Zum einen beeinflussen sie das Temperaturzentrum im Hypothalamus. Diese Hirnstruktur reguliert die Körpertemperatur.

Zum anderen können die Hormone direkt an den Sensoren ansetzen: Testosteron zum Beispiel kann TRPM8 weniger empfindlich machen. Da müssen wir allerdings vorsichtig sein – wie groß dieser Effekt wirklich ist, ist noch nicht geklärt. Aber er könnte zumindest eine Erklärung dafür sein, warum Männer im Durchschnitt weniger Kälte empfinden. Natürlich spielen auch weitere Faktoren wie etwa Körpermaße, Statur und Durchblutung eine Rolle.

Teile des Hypothalamus arbeiten also wie ein Heizungsthermostat?

So kann man sich das vorstellen. Es kommen Signale von den Nervenenden in Haut und Organen: Achtung, kalte Autoscheibe! Das ist der Ist-Wert. Diesen vergleicht der Hypothalamus mit einem Soll-Wert für die Körperkerntemperatur. Wenn die Abweichung zu groß wird, steuert er gegen: zum einen über Verhalten, wir würden uns dann einen Pulli anziehen. Zum anderen über das autonome Nervensystem. Dann bekommen wir Gänsehaut, die Muskeln beginnen zu zittern, die Blutgefäße in der Haut ziehen sich zusammen, Hände und Füße werden kalt oder bläulich.

Der Pharmakologe Jan-Erik Siemens forscht an der Universität Heidelberg zu Temperaturerkennung, -regulation und -akklimatisierung. Mit seinem Team untersucht er, wie sensorische Systeme und der Hypothalamus thermische Signale verarbeiten.
Der Pharmakologe Jan-Erik Siemens forscht an der Universität Heidelberg zu Temperaturerkennung, -regulation und -akklimatisierung. Mit seinem Team untersucht er, wie sensorische Systeme und der Hypothalamus thermische Signale verarbeiten. (Foto: oh)

Wie ist dieser Soll-Wert bestimmt?

Gute Frage – wir wissen es tatsächlich nicht genau. Was wir wissen: Bei Säugetieren ist die Körperkerntemperatur bemerkenswert stabil, beim Menschen etwa um die 37 Grad. Es gibt allerdings auch Tiere, bei denen die Körpertemperatur stark schwankt, denken Sie an Reptilien oder Winterschläfer. Das zeigt, dass der Soll-Wert prinzipiell biologisch verstellbar ist – nur wie genau das im Gehirn codiert ist, verstehen wir bisher nicht.

Anders gefragt: Warum reguliert der menschliche Körper seine Temperatur so penibel?

Weil er stabile Bedingungen braucht, um zuverlässig zu funktionieren. Alle Organe, alle zellulären Prozesse, alle Enzyme arbeiten nur in einem engen Temperaturbereich optimal. Das gilt übrigens auch für kognitive Funktionen. Durch die gleichmäßige Körpertemperatur haben wir uns eine enorme Freiheit geschaffen: Wir sind nicht darauf angewiesen, dass erst die Sonne uns wärmt, bevor wir handlungsfähig sind.

Sie haben die Tür weiter aufgeschlagen zu der großen, fast philosophischen Frage, wie wir Menschen unsere Welt wahrnehmen.

Jan-Erik Siemens über die Nobelpreisträger David Julius und Ardem Patapoutian

Doch die Aufrechterhaltung der inneren Temperatur kostet den Körper viel Energie, das heißt: Mit seinen rund 37 Grad hat er evolutionär offenbar einen Sweetspot gefunden – zwischen maximaler Effizienz der Prozesse und einem möglichst sparsamen Energieeinsatz.

Und diesen Sweetspot verteidigt der Körper, weshalb viele Menschen die Wintermonate als besonders anstrengend empfinden.

Der Körper versucht immer, ein Gleichgewicht herzustellen. Kälte bremst Stoffwechselprozesse massiv. Um dagegen anzugehen, zentralisiert der Körper bei Kälte das Blut in die Körpermitte. Das Gehirn meldet dem Herzen: Schlag schneller, pumpe mehr Blut, erhöhe die Wärmeproduktion.

Wie könnte man sich diese Prozesse zunutze machen?

Denken Sie an einen Schlaganfallpatienten. Wenn seine Nervenzellen weiterarbeiten, obwohl die Blutzufuhr gestört ist, sterben sie schneller ab. Eine große Forschungsfrage lautet deshalb: Können wir den Hypothalamus so beeinflussen, dass der Körper in eine Art „Winterschlafmodus“ geht, also den Stoffwechsel herunterfährt und nicht mehr permanent gegen Kälte ankämpft – ähnlich, wie wir es bei unseren Labormäusen gesehen haben? Wenn wir die Mechanismen verstehen würden, hätten wir ganz neue Möglichkeiten, um Gewebe zu schützen und Organschäden zu verhindern.

Wie forschen Sie daran?

Man kann im Hypothalamus von Mäusen bestimmte Neuronengruppen so verändern, dass das System in einen Kältezustand schaltet. Also letztlich die Soll-Temperatur im Gehirn manipulieren. Ob sich so etwas langfristig auf den Menschen übertragen lässt, ist völlig offen – und da wäre ich sehr vorsichtig.

Warum?

Weil der menschliche Körper klare Untergrenzen hat. Wenn die Temperatur zu stark absinkt, können Herzrhythmusstörungen bis hin zum Kammerflimmern auftreten. Das Herz schlägt dann elektrisch chaotisch und nicht mehr effektiv. Das menschliche Herz-Kreislauf-System ist möglicherweise nicht dafür geschaffen, in eine Art echten Winterschlaf zu gehen, wie es bestimmte Tiere tun. Wir stehen mit der Forschung hier noch am Anfang.

2021 wurden David Julius und Ardem Patapoutian immerhin mit dem MedizinNobelpreis für die Entdeckung von Rezeptoren ausgezeichnet, mit denen unser Nervensystem Temperatur und Berührung wahrnimmt.

Sie haben die Grundlagen gelegt, die Mechanismen der Temperaturwahrnehmung und Thermoregulation zu verstehen, und damit die Tür weiter aufgeschlagen zu der großen, fast philosophischen Frage, wie wir Menschen unsere Welt wahrnehmen – Hitze, Kälte, Berührung, Schmerz. Der Hypothalamus steht dabei im Zentrum einer ganzen Reihe von Wechselwirkungen. Ein einfaches Beispiel: Wenn es sehr heiß ist, haben wir weniger Appetit. Hitzeinformationen aus der Peripherie beeinflussen also das Temperaturzentrum, und dieses reguliert auch Hunger und Sättigung.

Ein weiteres berühmtes Beispiel aus dieser Forschung ist der Capsaicin-Rezeptor TRPV1. Wenn wir in eine Chilischote beißen, mischen sich Schmerz- und Hitzegefühle – denn es ist derselbe Rezeptor, der auch bei potenziell schädlicher Wärme aktiviert wird. Solche Befunde zeigen, dass Temperaturforschung immer auch Schmerzforschung ist. Wir wollen verstehen: Wie hängen Hitze und Schmerz zusammen? Und was können wir daraus für bessere Therapien etwa gegen chronische Schmerzen lernen?