Warum es in Kanada so viele Vorschriften gibt?

Mein erster Wutanfall auf kanadischem Boden überkam mich ausgerechnet auf der Damen­toilette eines angesagten Restaurants. An der Tür prangte ein Plakat, das mich mütterlich besorgt fragte: „Bist du sicher, dass du noch einen Drink willst? Oder trinkst du eigentlich jemand anderem zuliebe?”

Diese harmlose Frage führte dazu, dass bei mir eine Sicherung durchbrannte. „Was ist das denn für ein Nanny-Staat?“, durchfuhr es mich. Meine Getränkebestellungen hatte ich bisher gut ohne Reflexionsübung auf die Kette gekriegt. Das Plakat löste bei mir keine Inventur meiner Bestellhintergründe, sondern eine amtliche Trotzreaktion aus. „Das wollen wir ja mal sehen, was ich hier gleich noch alles bestelle“, dachte ich, als ich zu meinem Platz zurückkehrte.

Man muss wissen: Zu dem Zeitpunkt hatte sich schon ein bisschen was angestaut zwischen Kanada und mir. Hier ist nämlich fast alles gesetzlich geregelt. So ist es etwa verboten, am Strand laut Musik zu hören, außerhalb von Kreuzungen die Straße zu überqueren, in der Öffentlichkeit ein Pflaster abzuziehen oder einen Betrag über 25 Cent mit Ein-Cent-Münzen zu bezahlen. Und wo keine Vorschrift greift, bekommt man eine Empfehlung mit auf den Weg.

Kein deutsches Phänomen

An jeder zweiten Straßenecke erinnert ein Schild an das erwünschte Verhalten: den Hunde lieber anleinen, Alkohol nur in den liquor allowed-Strandabschnitten zu den liquor allowed-Uhrzeiten, und vor Betreten des Sportplatzes bitte die Schuhe abbürsten. Wer dachte, der Schilderwald wäre ein deutsches Phänomen, war noch nie in Kanada.

Aber erst das Plakat im Restaurant stürzte mich in eine ernste Beziehungskrise mit Kanada. Ich fing an zu zweifeln: Ist das wirklich noch mein Traumland? Mit einem Mal wirkte die ganze Gesellschaft etwas spaßbremsenhaft auf mich.

Bitte auch das Kleingedruckte lesen
Bitte auch das Kleingedruckte lesenSusanne Grautmann

Dabei war ich anfangs voll auf Linie, denn das meiste schien mir plausibel: Alkohol gibt’s im liquor store, auf dem Highway darf man maximal 110 Stundenkilometer fahren, und für Radfahren­de gilt eine Helmpflicht.

Ein bisschen hatte ich mich vor unserem Abflug sogar auf unser neues Leben im Regel-Wunderland gefreut. Was gesetzlich vorgeschrieben ist, muss man nicht mehr aushandeln. Für Eltern bedeutet das: ein paar Kämpfe weniger ausfechten. Zum Beispiel den um den Fahrradhelm. In Berlin habe ich mir mit unserem Teenager jahrelang einenfight um den Kopfschutz geliefert. Ich habe alles versucht: Argumente, Schockbilder, Flehen und Bitten. Unser Sohn raste trotzdem ohne Helm durch die Stadt.

Segensreiche Gesetze

Ich war also heilfroh, dass sich das Thema in Vancouver von selbst erledigen würde. Ich packte die Fahrradhelme also bestens gelaunt in die Koffer. Und fragte mich noch, wieso wir derart segensreiche Gesetze nicht auch in Deutschland haben.

In Vancouver sind die Parks, Strände und Sportplätze sauber, gepflegt und funktionstüchtig – kein Müll, keine Hundehaufen, keine Saufgelage. Keiner drängelt, keiner rempelt, keiner schneidet anderen den Weg ab. Es gibt klare Spielregeln, und die Leute halten sich daran. Anfangs war ich davon so angetan, dass ich unseren Kindern jede Vorschrift einzeln eintrichterte: „Hier nicht rennen, da nicht klettern und schon gar nicht quer über die Bahn schwimmen!“ Unser jüngerer Sohn staunte: „Hier gibt’s aber viele Regeln!“

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Mit der Zeit bekam mein Enthusiasmus allerdings leichte Dellen. Manchmal fühlt man sich hier behandelt, als wäre man nicht ganz zurechnungsfähig. Will man etwas in den Müll werfen, fragt ein Sticker auf der Tonne: Bist du sicher, dass das Müll ist? Wir sind auch schon ermahnt worden, weil wir auf dem Lehrerparkplatz standen. Ohne Auto, wohlgemerkt. Der Lehrerparkplatz ist aber für Lehrkräfte. Also ist es untersagt, dort unbefugt rumzustehen.

Sehnsucht nach Berlin

Spätestens da befielen mich Zweifel, ob ich diese Art von Regelmanie wirklich an unsere Kinder weitergeben wollte. In solchen Momenten verspürte ich eine heftige Sehnsucht nach meiner alten Liebe Berlin. Nach seiner Wurschtigkeit, seiner Freizügigkeit, seiner Eskalationsbereitschaft. Nach einem Leben ohne Reflexionsbogen und erhobenen Zeigefinger.

Dann fiel mir wieder ein, dass es auch in Berlin viele Schilder gibt. Nur schreiben sie dort nicht Leute aus der Verwaltung, sondern die Berliner selbst. Oft aus reiner Notwehr. Eine kurze Stichprobe auf dem Portal „Notes of Berlin“ ergibt: „An den (V)Erbrecher in unserem Haus: Kotz in deine eigene Bude! Verkneif es dir oder mach es weg!“ Ich musste daran denken, was unser kleiner Sohn gesagt hatte, nachdem wir einen Tag in einem der wunderschönen Stadtparks von Vancouver verbracht hatten: „Das ist so schade, Mama, in Berlin wäre das alles nach zwei Tagen komplett zugemüllt und zerstört!“ Dass unser Elfjähriger so auf seine Heimatstadt blickt, hatte mich doch beschäftigt.

Der Grat zwischen Freiheit auf der einen und Zumutung auf der anderen Seite ist oft schmal. Aber anscheinend können ein paar Regeln die Lage so stabilisieren, dass nichts ins Kippen gerät. Tatsächlich halten sich die meisten Menschen an Regeln, wenn es sie denn gibt. Sie orientieren sich an den Normen, um nicht aus der Gemeinschaft zu fallen.

Die kanadische Gesellschaft macht sich das viel stärker zunutze. Die ganzen Hinweise können nerven, aber sie wirken. Auch auf uns hat das Leben im Regel-Mekka schon abgefärbt. Neulich haben wir uns dabei ertappt, dass wir sogar in eine Gewissensprüfung eingestiegen sind, als wir unsere Fahrräder im Wald abstellen wollten: „Ist das hier überhaupt erlaubt?“ In Kanada zu leben, hat ein bisschen was von lebenslang Pausenhof. Das ist nicht gerade verwegen. Aber leider geil.