Warum die EU-Kredite an die Ukraine Risiken bergen

Die Ratingagentur Fitch hat ihre Einstufung des belgischen Finanzhauses Euroclear auf „Rating Watch Negative“ gesetzt. Das bedeutet, dass die Agentur eine Herabstufung des Ratings in Betracht zieht. Was hat das mit der Diskussion über das Reparationsdarlehen für die Ukraine auf dem EU-Gipfel zu tun?

Fitch nennt „steigende rechtliche und Liquiditätsrisiken“ für Euroclear infolge der auf dem Gipfel diskutierten EU-Pläne.

Worin bestehen letztere? Was ist die Grundidee des Reparationsdarlehens für die Ukraine?

Die EU-Kommission will die in der EU – vor allem bei Euroclear (etwa 185 Milliarden Euro), aber auch bei privaten Banken in anderen EU-Staaten (etwa 25 Milliarden Euro) – lagernden und dort „immobilisierten“ Guthaben der russischen Zentralbank dafür nutzen, der Ukraine Hilfskredite zukommen zu lassen. Abzuziehen vom Gesamtbetrag von 210 Milliarden Euro sind 45 Milliarden Euro, die für die Ablösung eines G-7-Kredits an Kiew vom vergangenen Jahr reserviert sind.

Was bedeutet „immobilisiert“?

Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine hat die EU als eine der ersten Sanktionen gegen Russland verfügt, die bei Euroclear lagernden russischen Staatspapiere einzufrieren. Andere Staaten rund um den Globus taten das auch. Die Laufzeit der meisten russischen Papiere ist mittlerweile abgelaufen, Euroclear hält das Geld jetzt in bar und legt es kurzfristig verzinst bei der Europäischen Zentralbank an. Die Zinsen werden schon jetzt für Ukraine-Hilfen genutzt.

Wie sollen die Reparationsdarlehen für Kiew konkret funktionieren?

Die EU-Kommission will die (vor allem) bei Euroclear lagernden Papiere zu Bargeld machen und sie als Kredite an die Ukraine weiterreichen. Im Gegenzug soll Euroclear als Sicherheit Kommissionspapiere bekommen. Diese will die Kommission in einem mehrstufigen Verfahren, das auch eigene Schulden einschließt, absichern. Insofern sollen die Reparationsdarlehen durch Reparationsanleihen der Kommission abgesichert werden.

Wie erklärt sich der Begriff „Reparationsdarlehen“?

Die Kernidee des Konstrukts läuft darauf hinaus, dass Kiew die Kredite nur zurückzahlen muss, wenn Russland bei einem Friedensschluss (nach einem verlorenen Krieg) an die Ukraine Reparationen zahlt und so dort den Wiederaufbau (mit-)finanziert. In dieser Logik stellen die Reparationsdarlehen eine Art Brückenfinanzierung dar. Nach Meinung der Kommission wird so auch die Enteignung der russischen Guthaben umgangen.

Ist das Szenario russischer Reparationszahlungen an Kiew realistisch?

Vorsichtig formuliert: Nach den aktuellen Spekulationen um einen Waffenstillstand in der Ukraine eher nicht. Damit existiert ein sehr hohes Ausfallrisiko für die Reparationsdarlehen.

Warum haben Euroclear und die belgische Regierung so große Bedenken gegen die von der EU-Kommission vorgeschlagene und von der Bundesregierung vehement unterstützte Konstruktion?

Euroclear als Zentralverwahrer der russischen Papiere und Belgien als Finanzstandort haben für den Fall, dass sie den Zugriff auf die Guthaben verlieren, Sorgen um die Sicherheit von Unternehmen und von Belgien als Staat – und Angst vor russischer Vergeltung. Konkreter sind die juristischen Einwände. Euroclear-Chefin Valérie Urbain hat in der F.A.Z. formuliert, es gebe „kein freies Geld von Euroclear für die EU“. Damit ist gemeint, dass die EU-Kommission die bei Euroclear lagernden Guthaben nicht zu Bargeld machen kann, ohne dem Finanzhaus eine hundertprozentige Sicherheit gegen jegliches Ausfallrisiko zu bieten. Belgiens Regierung besteht auf entsprechenden Garantien.

Kann die EU diese Garantien bieten?

Anscheinend nicht. Nicht zuletzt wegen der einschlägigen Risiken ist Euroclears Rating gefährdet.

Wie will die EU-Kommission die Risiken absichern?

Geplant ist eine Art Haftungskaskade. Im Idealfall würden die Mitgliedstaaten den Gesamtbetrag von 210 Milliarden Euro freiwillig durch Garantien aus ihren eigenen Haushalten – aufgeteilt nach ihrem jeweiligen Anteil an der Wirtschaftsleistung der EU – absichern. Das gilt aber als unrealistisch, weil etliche Staaten dazu weder politisch willens noch ökonomisch in der Lage sind. In der nächsten Stufe wäre eine Absicherung aus den noch verfügbaren Mitteln des EU-Budgets denkbar. Was darüber hinausgeht, müsste von der EU-Kommission über ein „Schuldeninstrument“ – also über Gemeinschaftsschulden – finanziert werden. Kommissionsanleihen gerieten so zum letzten Sicherheitsnetz (backstop of last resort) für die Ukraine.

Der Bundeskanzler hat eine „Gleichverteilung“ der Risiken innerhalb der EU versprochen. Ist diese realistisch?

Nein. Mehrere Mitgliedstaaten haben signalisiert, dass sie gar keine Garantien abgeben wollen.

Was bedeutet das?

Die Logik der Haftungskaskade läuft auf ein Einspringen anderer Staaten hinaus, entweder direkt über erhöhte Garantien oder indirekt über die Absicherung von Gemeinschaftsschulden.

Welche Belastung käme auf Deutschland zu?

Das ist eine Rechnung mit vielen Unbekannten. Der deutsche Anteil an den genannten 210 Milliarden Euro beträgt gut 50 Milliarden Euro. Dieser Betrag ist aber wohl nicht wirklich entscheidend, einerseits weil offen ist, wie hoch der an die Ukraine ausgeliehene Kreditbetrag am Ende ausfällt, andererseits weil sich der deutsche Anteil erhöhen kann, wenn EU-Staaten mit schlechterer Bonität als Garantiegeber ausfallen. Umstritten ist zudem, wie die deutschen Garantien im Bundeshaushalt zu berücksichtigen sind. Nach deutschem Haushaltsrecht müssen Garantien mit vollem Ausfallrisiko als Ausgaben verbucht werden.

Die Bundesregierung schließt einen „Plan B“ mit dem Argument aus, alle Alternativoptionen zum Reparationsdarlehen liefen auf Eurobonds hinaus. Trifft das zu?

Das hängt von der Definition ab – und in die Irre führt das Argument auf jeden Fall. Es läuft darauf hinaus, dass sich die EU ohne die Nutzung der russischen Guthaben direkt gesamtschuldnerisch verschulden müsste. Das entspräche Eurobonds in der Definition, wie sie das Bundesverfassungsgericht für grundgesetzwidrig hält. Die Konstruktion der Reparationsanleihe mit den damit verknüpften Garantien impliziert aber ebenfalls eine (mindestens partielle) Gemeinschaftsverschuldung und ist damit von Eurobonds nicht weit entfernt. Das „Schuldeninstrument“ der EU-Kommission entspricht Eurobonds.

Ist das jenseits des Grundgesetzes ein Problem? Die EU hat doch weiterhin ein Top-Rating.

Dieses verdankt sie weitgehend Deutschland. Im übrigen sind die Zinsen auf EU-Anleihen – vor allem für den schuldenfinanzierten Corona-Fonds – schon heute höher als jene auf Bundesanleihen.

Welchen Betrag will die EU für die Ukraine bereitstellen?

In den kommenden beiden Jahren je 45 Milliarden Euro. Die Beträge resultieren aus den Berechnungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) zum Finanzbedarf des Landes in den kommenden beiden Jahren von 136 Milliarden Euro. Von diesem Betrag will die EU zwei Drittel decken, der Rest soll im Wesentlichen von den anderen G7-Staaten und zu einem geringen Teil auch vom IWF kommen.

Wofür soll das Geld ausgegeben werden?

Grob gesagt zu zwei Drittel für Waffen und Munition, zu einem Drittel für den allgemeinen Haushaltsbedarf.

Wie stehen die Vereinigten Staaten zu dem Reparationsdarlehen?

Die Versuche der US-Regierung, auf die russischen Guthaben direkt zuzugreifen, scheinen vom Tisch zu sein. Jetzt unterstützt die Regierung Trump die EU-Pläne in der Erwartung, dass die Ukraine einen erheblichen Teil des Geldes für amerikanische Waffen und Munition ausgibt.

Kann Belgien eine Einigung auf das Reparationsdarlehen verhindern?

Nein. Zum Thema der Ukraine-Finanzierung werden die Staats- und Regierungschefs keine „Schlussfolgerungen“ beschließen, die nur einstimmig verabschiedet werden können. Stattdessen ist eine Erklärung jener Staaten geplant, die das Vorhaben unterstützen. Dagegen sind aus anderen Gründen Ungarn, die Slowakei und voraussichtlich Tschechien. Wenn im Januar die Rechtstexte verabschiedet werden, reicht eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten, das wären 15 Staaten, die mindestens 65 Prozent der EU-Einwohner repräsentieren. Darüber, ob die Staats- und Regierungschefs über die in Belgien lagernden Guthaben am Ende eine Entscheidung gegen Belgien treffen würden, waren am Mittwoch unterschiedliche Spekulationen im Umlauf.

Existieren gegen die Reparationsdarlehen weitere Bedenken?

Ja. Die Frage, ob es nicht gegen das Prinzip der Staatensouveränität im Völkerrecht verstößt, wird von Juristen unterschiedlich beurteilt. Außerdem bleiben die Einwände der EZB bestehen. Sie befürchtet generell Kapitalflucht aus dem Euroraum, weil die Quasi-Konfiskation der russischen Guthaben Investoren abschrecken könnte.