Wahl in Baden-Württemberg: Wie Cem Özdemir gewinnen will

Bücher sind deutschen Politikern vor Wahlkämpfen irgendwie wichtig – trotz des Niedergangs des Bildungsbürgertums und obwohl sich der eine oder andere Politiker beim Thema Belesenheit schon um Kopf und Kragen geredet hat. Und so beginnt der Landtagswahlkampf in Baden-Württemberg in diesen Tagen auf eine ziemlich deutsche Art: Der 37 Jahre alte CDU-Kandidat Manuel Hagel hat für Anfang 2026 ein Buch angekündigt, er gibt den Sammelband „75 Jahre Baden-Württemberg – 75 Stimmen“ heraus.

Und über den grünen Spitzenkandidaten Cem Özdemir liegt die erste umfassendere Biographie vor. Der Neunundfünfzigjährige blickt auf viele Stationen in seinem politischen Leben zurück und kann so viele Geschichtchen aus seiner Kindheit und Jugend als anatolischer Schwabe in Bad Urach erzählen, dass sich 243 Seiten mühelos füllen lassen.

„Brücken bauen“ heißt das Buch von Johanna Henkel-Waidhofer und Peter Henkel, und es geht natürlich um die Frage, wie ein Grüner in diesen Zeiten ein Kandidat für die Mitte der Gesellschaft sein kann und ob Özdemir den historisch einmaligen Erfolg Winfried Kretschmanns am 8. März 2026 wiederholen kann.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.



Zur Vorstellung des Buches reiste am Montag der frühere Außenminister Joschka Fischer von Berlin nach Stuttgart. In einem kleinen Weingut im Nordosten Stuttgarts ließ Fischer ein paar Jahrzehnte gemeinsamer grüner Geschichte Revue passieren, seine Einlassungen zum Buch sollten eine „speech of hope“ für den Spitzenkandidaten sein: „Wo andere eine Grätsche gemacht haben, ist Cem immer wiedergekommen, das ist eine große Fähigkeit in der Politik. Er ist ein Comeback-Kid.“

Das Weingut ist nur wenige Kilometer entfernt von Fellbach-Oeffingen, der kleinen katholischen Exklave, in der Fischer Teile seiner Jugend verbrachte. Fischer erzählt über den langen Weg, den die beiden Grünen gemeinsam gegangen sind, wie sie sich 1994 als Abgeordnete in Bonn ein Büro teilten und um die beste Mitarbeiterin stritten, er kommt immer wieder auf Parallelen in ihren politischen Biographien zu sprechen: das Aufwachsen auf dem Land, der ewige Streit mit der Bundespartei, diesem „schwierigen Laden“, die jahrzehntelangen Kämpfe für grüne Regierungspolitik. „Die Umfragen sind nicht blendend, das ist nicht deine Schuld, das sind die Bundesgrünen.“

Baden-Württemberger wählten „unorthodox“, sagt Fischer

Fischer ist 77 Jahre alt, er schlägt staatstragende, besorgte und geradezu altersmilde Töne an: Er wünsche sich keine schwache CDU, eine starke CDU sei für die Stabilität der Demokratie geradezu „konstitutiv“, er verstehe aber nicht, warum sich die CDU außenpolitisch nicht stärker auf Konrad Adenauer berufe. „Die CDU arbeitet in Berlin daran, deine Wahlchancen zu verkleinern, das ist die Partei der christdemokratischen Kesselflicker. Verlier also nicht die Nerven.“ Der Spitzenkandidat brauche jetzt Beinfreiheit, die Badener und Württemberger würden häufig „unorthodox“ wählen, am Ende entscheide die Persönlichkeit. „Die wollen keinen Politiker von der Stange.“ Der Cem mit seinem „Schwäbisch von der Albabrisskante“ könne es noch schaffen.

Cem Özdemir beim Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertag am 13. November
Cem Özdemir beim Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertag am 13. Novemberdpa

Die Ausgangslage für den Wahlkampf ist schlecht für die Grünen: die Ampelregierung und auch der frühere Wirtschaftsminister Robert Habeck haben das Image der Partei nachhaltig ramponiert. Am Anfang der Ampelzeit konnten sich die Grünen im Südwesten in den Umfragen noch vom Bundestrend abkoppeln – das lang am Kretschmann-Bonus. Später gelang das nicht mehr.

2019 konnten die Grünen außerdem das Klimaschutzthema in die Gesellschaft hineintragen, davon profitierten sie stark bei der Landtagswahl 2021. Das ist heute anders, ein vergleichbares Thema hat die Partei noch nicht gefunden, ökologische Themen sind in der schweren Wirtschaftskrise Ballast. Durch die Ampel-Regierungszeit hat in den Mittelstädten und auf dem Land das Ansehen der Grünen gelitten – auch in Baden-Württemberg. „Früher hat es die Leute überzeugt, wenn wir gesagt haben, in der Wirtschaftspolitik wollen wir mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben. Heute nehmen uns das die Leute wegen der hohen Kosten der Energiewende und wegen der angespannten wirtschaftlichen Lage nicht mehr so einfach ab“, sagt ein grüner Funktionär.

Größtmögliche Personalisierung, maximale Parteiunabhängigkeit

Özdemirs Antwort auf das Dilemma heißt: größtmögliche Personalisierung, maximale Parteiunabhängigkeit, mittiger Kurs, als Experten für praktisches Regieren wollen die grünen Wahlkämpfer sogar dem in Teilen der Partei verfemten Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer eine Gastrolle geben. Fast jede politische Intervention Özdemirs zielte bislang auf die politische Mitte: Autos mit Verbrennermotor sollen auch nach 2035 noch neu zugelassen werden, Probleme der Einwanderungsgesellschaft spricht er so klar an wie kaum ein anderer Grüner, in der Bildungspolitik überholte der gelernte Erzieher und Sozialpädagoge die CDU, indem er vorschlug, Kindern und Jugendlichen bis zum Alter von 16 Jahren einfach die Tiktok-Nutzung zu verbieten. Bevor Özdemir im vergangenen Herbst seine Kandidatur erklärte, war er viel in seiner Partei unterwegs.

Der grüne Spitzenkandidat Özdemir bei einer Schnellfragerunde beim Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertag
Der grüne Spitzenkandidat Özdemir bei einer Schnellfragerunde beim Baden-Württembergischen Industrie- und Handelskammertagdpa

In der Kretschmann-Ära spielte der linke Flügel keine große Rolle, das hat sich durch den großen Mitgliederzuwachs und das medienbedingte Schnellwachstum der Heidi-Reichinnek-Linken geändert. Erstmals seit der Gründung des Landes könnte die Linkspartei in den Landtag einziehen: der Gazakrieg, die Abstimmung im Januar über Migrationspolitik mit Stimmen der AfD, Gemeinsamkeiten von CDU und AfD in der Migrationspolitik, soziale Themen, das Scheitern des grünen Mitte-Kurses unter Annalena Baerbock und Robert Habeck verschaffen der Partei Zulauf, vor allem in den für die Grünen so wichtigen Universitätsstädten. Özdemir will die frühere grüne Bundesvorsitzende Ricarda Lang in seinen Wahlkampf einbinden, aber im linken Parteiflügel ist dennoch eine gewisse Unruhe zu spüren. Özdemir kümmere sich im Moment nur um die Mitte und vernachlässige die klassisch linken Themen. Eine Strategie für die Großstädte fehle ihm noch.

Die Realos im Südwesten sehen das anders und empfehlen Özdemir, das zu beherzigen, was sie oft in Richtung CDU sagen, wenn es um die Abgrenzung zur AfD geht: Das Kopieren von Außenseiterpositionen bekräftige die Wähler nur, das Original zu wählen. „Bei der Bundestagswahl haben wir stärker an die CDU verloren als an die Linke. Im Bund war das anders“, sagt einer, der zu den jüngeren Ultrarealos gehört. Die Verankerung im bürgerlichen Milieu sei den Grünen eben durch Kretschmann gelungen.

Die Realos hoffen immer noch, dass Özdemir das Ergebnis von derzeit 20 Prozent auf etwa 26 Prozent steigern kann. Anders als Robert Habeck sei Özdemir keine Reizfigur, er könne den Bürgern Politik ohne die Besserwisserei erklären. Eine Landtagswahl sei heute eine Oberbürgermeisterwahl, es gewinne der beliebtere Bewerber. So machen sich die Realos Hoffnung, denn sie wissen auch, dass die Grünen, falls sie in die Opposition müssten, dann sowohl in Baden-Württemberg als auch im Bund für Jahre wieder zur Nischenpartei würden.

Hagel bietet einen „modernen Konservativismus“

Während die Grünen alles auf den parteineutralen Kandidaten Özdemir setzen – eine Direktwahl würde er gewinnen –, setzt Hagel auf einen bekannten Mix: Mobilisierung der Stammwählerschaft auf dem Land und das Versprechen, das Land im Sinne Lothar Späths zu modernisieren. Hagel bietet den Wählern einerseits einen „modernen Konservativismus“ an, andererseits baut er AfD-Wählern eine „goldene Brücke“ und macht harte Ansagen in der Migrationspolitik, versucht zwischen Özdemirs Mitte-Kurs und seine Partei einen Keil zu treiben.

Am Donnerstagabend saßen Cem Özdemir und Manuel Hagel zum ersten Mal gemeinsam auf dem Podium. Die Kandidaten von FDP, SPD und AfD waren auch da. Eingeladen hatte der baden-württembergische Industrie- und Handelskammertag. „Selten haben unsere Unternehmen so große Sorgen gehabt. Der Staatskonsum ist um 25 Prozent gestiegen“, sagte Kammerpräsident Stefan Roell. Für Hagel war es ein Heimspiel. „Die Hütte brennt“, sagte er.

Dann wurden die Kandidaten gefragt, was sie von der Einführung der Landes-Lkw-Maut halten. Keiner der Kandidaten wollte davon etwas wissen. Auch Cem Özdemir hielt davon nichts. Er folgte spontan der Empfehlung Joschka Fischers und entschied sich für die Vernunft und gegen die Befindlichkeiten „seines Ladens“. Ursprünglich hatten die Grünen die Einführung der Lkw-Maut für 2027 versprochen.