Knapp drei Monate vor dem Wahltag scheint das Ergebnis bereits festzustehen. Die CDU verteilt Flyer, auf denen steht: „Manuel Hagel – Ministerpräsident für Baden-Württemberg“. Schon ein „als“ hätte etwas Demut vor dem Wähler gezeigt.
Was ist da los im einstigen grünen Vorzeigeland, in dem die Grünen vor 15 Jahren das demokratische Streiten neu erfinden mussten, nachdem die Bastapolitik für einen Bahnhof die Bürger auf die Straße getrieben hatte? Für den Bahnhof gibt es bis heute keinen Eröffnungstermin. Winfried Kretschmann wird ihn nicht mehr eröffnen, was ihm und seiner Partei nachträglich recht gibt. Aber bringt es eine Partei, die 15 Jahre regiert hat, jetzt noch nicht einmal zustande, dass es zu einem echten Wettbewerb zwischen Manuel Hagel und Cem Özdemir kommt? Rutschen die Grünen von Platz eins auf Platz drei hinter die AfD? It’s the economy, stupid.
Es kann sich in den nächsten Wochen noch einiges ändern, viele Wähler treffen ihre Entscheidung erst unmittelbar vor der Wahl. In jedem Fall geht mit der nächsten Regierungsbildung eine Ära zu Ende: Der erste und bislang einzige grüne Ministerpräsident geht in den Ruhestand. Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik haben die Grünen irgendwo so lange regiert. Noch nie regierte ein Ministerpräsident einer Partei, der weder der Union noch der SPD angehörte, so lange wie Kretschmann. Der Katholik aus Sigmaringen war sogar länger im Amt als der erfolgreiche CDU-Ministerpräsident Erwin Teufel.
Die Voraussetzungen seines Erfolgs feierte Kretschmann erst in dieser Woche mit der früheren Bundeskanzlerin Angela Merkel – nämlich die Überzeugung, dass Vertrauen in die Wissenschaft, pragmatisches Regierungshandeln, Kompromissorientierung und das permanente Unterscheiden zwischen Tatsachen und Meinungen die Grundlagen dafür sind, dass das Regieren funktioniert. Erst recht in Zeiten, in denen die klassischen grünen Themen keine Konjunktur haben. Mit Kretschmann haben die Grünen über eine lange Zeit bewiesen, dass sie mit bürgerlicher Vernunftorientierung regieren können.
Was wird von der grünen Regierungszeit bleiben?
Was wird bleiben aus den 15 Jahren? Ein Nationalpark im Schwarzwald, der Versuch, mit verschiedenen Methoden der Bürgerbeteiligung die Bürger wieder an die demokratischen Institutionen und Parteien heranzuführen, die Rettung der verfolgten Jesiden. Dass es gelang, den Pfad der Wissenschafts- und Innovationspolitik früherer Regierungen fortzusetzen und das Land zum führenden Innovations- und KI-Standort zu machen, wird man Kretschmann zugutehalten müssen. Demgegenüber stehen Versäumnisse in der Schulpolitik und bei der Staatsmodernisierung.

Seit dem Scheitern der Bundestagswahl stecken die Grünen in der Krise. Sie sind Projektionsfläche für den Frust vieler Bürger. Selbst im Südwesten haben sie es nicht geschafft, eine linke Volkspartei zu werden – vielleicht, weil die Zeit für neue Volksparteien nach der Jahrtausendwende vorbei war, vielleicht auch, weil Kretschmann, der die Beschränktheit von Parteifunktionären auf hundert Meter riecht, selbst nie daran geglaubt und in seiner Partei hierfür nichts getan hat. Ein schmales Zeitfenster gab es vor zehn Jahren, eine Strategie ebenso, doch es fehlte an Konsequenz.
Bürgerliche Mitte oder Zehnprozentpartei der moralisch Überlegenen?
Und selten hat eine Partei einen erfolgreichen Spitzenpolitiker so sehr im Abseits stehen lassen: Mit Ignoranz und Desinteresse beobachtete die Bundespartei, was Grüne in Reutlingen oder Ravensburg machten. Auch weil die Grünen in Krisen zum weltanschaulichen Sektierertum neigen, stehen sie jetzt wie so oft seit ihrer Gründung vor der Frage: Wollen sie Kraft einer reformerischen bürgerlichen Mitte sein oder die Zehnprozentpartei der moralisch Überlegenen?
Spitzenkandidat und Superrealo Cem Özdemir hat diese Frage schon vor zwanzig Jahren klar beantwortet. Er war bei den Themen Wirtschaft und Migration vielfach mutiger als sein Vorbild Kretschmann, auch weil er lange Parteivorsitzender war. „Diese Partei kann Auto“, rief er den Delegierten auf dem Bundesparteitag zu, warnte vor Wolkenkuckucksheim und versprach, das „angeschlagene Sicherheitsgefühl“ in den Städten wieder in Ordnung zu bringen. Viel weiter kann er nicht gehen.
Die Grünen ausgerechnet in der Krise zur Wirtschaftspartei zu erklären, ist angesichts geringer Kompetenzzuschreibungen mehr als mutig. Ob die Partei Özdemir unter dem Druck der Linkspartei bedingungslos folgen wird, werden die nächsten Wochen zeigen. Anders als die immer stärker werdenden Pseudorealos wissen die erfahrenen Superrealos, dass ein gutes Ergebnis für Özdemir die Voraussetzung für einen Neuanfang der Bundespartei ist. Die Wahl in Baden-Württemberg ist die wichtigste für die Grünen, sie entscheidet über die Zukunft der Partei.
