Sechs Monate lang hatte Ungarn die Ratspräsidentschaft inne, eine wichtige Führungsrolle in der EU. Viele Politiker ziehen eine negative Bilanz. Tatsächlich ging es unter Viktor Orbán kaum voran – doch das ist nicht allein seine Schuld.
Alles begann mit vier Buchstaben. Vor einem halben Jahr stellte die ungarische Regierung in Brüssel das Motto ihrer EU-Ratspräsidentschaft vor. Es lautete: MEGA. Das stand für „Make Europe Great Again“, auf Deutsch so viel wie „Macht Europa wieder großartig“.
Es handelte sich um eine Abwandlung des Slogans „Make America Great Again“, erfunden von Donald Trump und in den USA millionenfach auf roten Baseballkappen zu sehen. MAGA und MEGA. Der Ton war gesetzt.
Die Ratspräsidentschaft wechselt alle sechs Monate zwischen den 27 EU-Staaten. Wer sie innehat, leitet normalerweise wichtige Treffen europäischer Minister und kann großen Einfluss auf die politische Agenda des Kontinents nehmen.
Doch Ungarn gelang das kaum. Regierungschef Viktor Orbán bezeichnete die Zeit zwischen Juli und Dezember kürzlich als „enormen Erfolg“. Doch nicht alle sehen es so.
„Eine gute Ratspräsidentschaft“, sagt Daniel Freund, ein Europaabgeordneter der Grünen, „erkennt man an ihrer Unsichtbarkeit“. Sie wirke im Hintergrund, handele Kompromisse aus.
Orbán habe das Gegenteil getan. „Er war laut, er polterte, nur Europa brachte er kein bisschen voran“, meint Freund. „Man kann froh sein, dass es vorbei ist.“ Der Politiker bezeichnet Ungarns Ratspräsidentschaft als „die schlechteste der EU-Geschichte“.
Immerhin acht Gesetzgebungsverfahren verhandelten die Ungarn zu Ende
In Zahlen ausgedrückt, ganz unpolitisch, sieht die Bilanz so aus: Die Ungarn verhandelten acht Gesetzgebungsverfahren zu Ende – deutlich weniger als für eine Ratspräsidentschaft üblich.
Die Vorgänger Belgien und Spanien kamen jeweils auf fast 70. Natürlich kann man den Erfolg eines Landes nicht an der Zahl der beschlossenen Rechtsakte messen.
Dennoch entstand der Eindruck: So mega war Ungarns Ratspräsidentschaft jetzt nicht. Unter Orbán packte Europa seine Probleme kaum an.
Ungarn ist – das muss man fairerweise sagen – nicht allein dafür verantwortlich. Nach der Europawahl im Juni kam der Brüsseler Politikbetrieb wochenlang zum Erliegen. Im Parlament und in der Kommission wurden Aufgaben neu verteilt, auch viel Personal wechselte.
Doch selbst im Vergleich zu anderen Ratspräsidentschaften, die nach einer Wahl begannen, schnitt Orbáns Regierung schlecht ab. Finnland und Italien brachten in den Jahren 2019 und 2014 je rund 20 Gesetze durch.
In die Zeit des ungarischen Vorsitzes fielen einige heikle Projekte. Etwa die Verhandlungen um ein Gesetz zum Schutz von Wäldern. Produkte wie Kaffee, Soja und Palmöl sollen künftig nur in der EU verkauft werden dürfen, wenn dafür keine Bäume sterben.
So will Brüssel die Abholzung von Dschungeln in Asien und Südamerika stoppen. Die Wirtschaft wehrte sich dagegen, viele Unternehmen fürchteten mehr Bürokratie und hohe Kosten. Hier immerhin ging es voran. Es gelang ein Kompromiss: Das Gesetz soll ein Jahr später als geplant Anwendung finden.
Die Kommission unter Ursula von der Leyen entschied schon im Juli, Treffen mit der ungarischen Ratspräsidentschaft zu boykottieren. Im August dann verlegte der damalige EU-Chefdiplomat Josep Borrell eine Sitzung der Außen- und Verteidigungsminister von Budapest nach Brüssel. Doch warum war die Ablehnung der europäischen Spitzenpolitiker so groß?
Es hat viel mit einer nicht abgestimmten Auslandsreise zu tun. Im Juli traf Orbán den russischen Präsidenten Wladimir Putin – und inszenierte das als „Friedensmission“ der EU zur Beendigung des Kriegs in der Ukraine. Später besuchte Orbán Chinas Staatschef Xi Jinping und den ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump, ebenfalls ohne Rücksprache mit seinen europäischen Amtskollegen.
Zudem provozierte die ungarische Regierung immer wieder mit einer bizarren Idee: Sie drohte, Migranten mit Bussen nach Brüssel zu fahren. Das Vorbild dafür ist wohl der texanische Gouverneur Greg Abbott, der Tausende Migranten von seinem Bundesstaat an der Grenze zu Mexiko aus nach New York transportieren ließ.
Im September dann boykottierten viele europäische Wirtschafts- und Finanzminister ein wichtiges Treffen in Budapest. Etwa zwei Drittel blieben fern, schickten Beamte. Auch Christian Lindner (FDP) ließ sich damals vertreten, offiziell wegen Haushaltsverhandlungen in Berlin.
Dabei hätte es zu jener Zeit einiges zu besprechen gegeben. Wenige Tage vor dem Treffen in Budapest hatte der frühere EZB-Chef Mario Draghi einen lang erwarteten Bericht zur Zukunft der europäischen Wirtschaft vorgelegt.
Seine Prognose war düster: Europa, meinte der Italiener, werde ökonomisch von Amerika und China abgehängt und militärisch von Russland bedroht. Der Kontinent müsse daher enorme Summen in die Technologien von morgen – etwa künstliche Intelligenz und Elektroautos – und in die eigene Verteidigung investieren. Zusätzlich 800 Milliarden Euro pro Jahr seien nötig.
Europas Wirtschafts- und Finanzminister hätten darüber in Budapest reden können. Doch der Boykott – am Ende ein politisches Symbol ohne Folgen – war vielen wichtiger. Und so geriet der Kampf um Europas Wettbewerbsfähigkeit während der ungarischen Ratspräsidentschaft ins Stocken.
Es blieb bis zum Ende schwierig. Im Dezember verlor Ungarn den Anspruch auf europäische Hilfen in Höhe von rund einer Milliarde Euro. Aus Brüssels Sicht hatte Orbán zu wenig gegen die Korruption in seinem Land unternommen und Grundwerte der EU verletzt, etwa die Unabhängigkeit der Justiz. Die Gelder waren 2022 eingefroren worden.
Anfang dieses Jahres übernahm Polen den Vorsitz. „Mit dem Ende der Ratspräsidentschaft unter Viktor Orbán kehrt in der EU wieder etwas Normalität zurück“, sagt der Grünen-Abgeordnete Freund. „Sieben Monate nach der Europawahl wird es Zeit, dass es wieder ans legislative Arbeiten geht.“
Stefan Beutelsbacher ist Korrespondent in Brüssel. Er berichtet über die Wirtschafts-, Handels- und Klimapolitik der EU.