Von der drohenden Rodung zur „Ersten Lage“

Zweimal im 20. Jahrhundert hatte der „Neroberger“ Riesling einen großen Auftritt: Im Mai 1907 wurde Kaiser Wilhelm II. von Wiesbadens Bürgermeister Carl von Ibell in einem imposanten Trinkkrug eine „1893er Neroberger feinste Trockenbeer-Auslese“ gereicht. Anlass für diesen „Ehrentrunk“ war die Eröffnung des Kurhaus-Neubaus.

Eine Flasche aus jenem Jahrhundertjahrgang, eine 1893er Neroberger Trockenbeerenauslese, erzielte knapp 80 Jahre später bei einer Weinversteigerung im Kloster Eberbach einen Preis von 35.000 Mark. Der edle Tropfen zählte damit zu den teuersten der Welt. Das sind nur zwei von vielen Episoden über den Neroberg, die der Weinhistoriker und F.A.Z.-Redakteur Daniel Deckers im Vorfeld der Feier „500 Jahre Neroberg“ aus den Archiven belegt hat.

Es ist eine wechselvolle Weinbergs-Geschichte zwischen Blütezeit und drohender Rodung. Die Urbarmachung und Bepflanzung des Südwesthangs oberhalb der Siedlung Wiesbaden ist im Oktober 1937 in einer weinhistorischen Abhandlung im „Wiesbadener Tagblatt“ ausführlich, aber nicht immer korrekt beschrieben worden.

Im 18. Jahrhundert mit Riesling bepflanzt

In Wiesbaden hatte es zu jener Zeit schon in Schierstein und Sonnenberg Weinberge gegeben. Angenommen wird, dass zu jener Zeit – kurz nach den Bauernkriegen und der Leerung des Großen Fasses in Kloster Eberbach durch Aufständische – die Grafen von Nassau nicht allein dem Bistum Mainz den Weinbau in der Region überlassen wollten.

Erst für das Jahr 1720 folgt der nächste dokumentarische Beleg für den Weinbau auf dem Neroberg durch Schriften von Heinrich Wilhelm Dahlen, dem aus Lorch stammenden Generalsekretär des Deutschen Weinbau-Vereins. Im Jahr 1830 wurde der herzogliche Weinberg schließlich durch den Kauf angrenzender Parzellen deutlich vergrößert. Diese wurden zusammen nach und nach mit der Rebsorte Riesling neu bepflanzt. 1854 zählte der „Neroberger“ zwar zu den „ausgezeichneten Weinen und Jahrgängen“ des Herzoglich-Nassauischen Cabinets-Kellers, doch nicht zu „bedeutendsten Weinbergslagen im Rheingau“.

Im Jahr 1866 lösten die Preußen die Nassauer als Eigentümer der Weinbaudomänen im Rheingau ab. Zum Ende des 19. Jahrhunderts schien beinahe das Ende des Nerobergs als Weinlage gekommen. Die Preußen erwogen, ihre Rebflächen als Bauland zu veräußern.

Verkauft für 250.000 Goldmark

Edler Tropfen: Der 1893er Neroberger.
Edler Tropfen: Der 1893er Neroberger.Lando Hass

Wiesbaden mochte sich mit einer möglichen Bebauung des Steilhangs aber nicht anfreunden. Stattdessen griff die Stadt zu und kaufte den Weinberg. Nach den Recherchen von Deckers lautete die Forderung des preußischen Fiskus für etwa 20 Morgen Land 250.000 Mark. Das Geld konnte Preußen gut gebrauchen, denn zuvor hatte der Fiskus für 19 Hektar bester Weinberge in den Gemarkungen Eltville und Rauenthal rund 1,1 Millionen Goldmark ausgegeben.

„Insgesamt kann der Preis von etwa fünf Mark pro Quadratmeter (25 Mark pro Ruthe) für damalige Verhältnisse als durchaus üblich bezeichnet werden“, so Deckers. Eigentlich wollte Wiesbaden nach der Übernahme den Neroberg aufteilen und an Bürger verpachten. Doch mangels Interessenten, so Deckers, musste die Stadt die Bewirtschaftung der Reben unfreiwillig in Eigenregie übernehmen. Das gelang ihr zumindest zeitweise recht ordentlich. Zu höchsten Ehren gelangte die Weinqualität aber nie.

Die Qualität galt als mäßig

In der Weinkarte des Wiesbadener Kurhauses wurde der Neroberg als „Vorposten des Rheingauer Weinbaus“ gewürdigt. Unterlegt wurde laut Deckers das Lob mit zwei „Original-Abfüllungen der Stadt Wiesbaden“ aus dem großen Jahrgangs 1921. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg galt die Qualität eher als mäßig. „Ob das Weingut der Stadt jemals profitabel war oder jemals werden sollte, wäre im Detail noch zu ergründen. Wer auf das Gegenteil wetten wollte, dürfte gute Chancen haben zu gewinnen“, schreibt Deckers in seiner Chronik.

Vor allem die Vermarktung der Weine gelang der Stadt eher schlecht als recht. Im Jahr 2005 zieht sie die Notbremse und gewinnt die Staatsweingüter Kloster Eberbach als Pächter des vier Hektar großen, seit 1985 denkmalgeschützten Weinbergs. „Nun wächst zusammen, was einst zusammengehörte“, so Deckers. Auch vom Klimawandel profitiert die eher kühlere Lage, die inzwischen von den Prädikatsweingütern VDP als „Erste Lage“ klassifiziert worden ist.

Staatsweingüter-Geschäftsführer Dieter Greiner nennt den Neroberg ein „lebendiges Denkmal“ und eine „Lage mit Zukunft“ trotz ihrer schwierigen Bewirtschaftung zwischen Siedlungsrand und Opelbad. Greiner übergab Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende (SPD) eine Rebstockpacht, die ihm bis 2030 jährlich eine Flasche als Zinsen gewährt.

Der 2025er wird zudem ein historisches Sonderetikett tragen. Mende selbst nannte es eine weise städtebauliche Entscheidung, seinerzeit durch den Kauf eine Bebauung verhindert zu haben. Mende hatte zur Feierstunde den frisch polierten Kelch im Gepäck, aus dem einst der Kaiser getrunken hatte, und Greiner öffnete aus der Schatzkammer eine ­1893er Neroberger Auslese. Die erwies sich als frisch und elegant und echte Werbung für die Langlebigkeit der Weine aus herausragenden Jahrgängen.