Victor Hugo war methodisch maßlos – als Mensch wie als Schriftsteller – Kultur

Im Roman „Die Arbeiter des Meeres“, erschienen im Jahr 1866, erzählt Victor unter anderem von einer Begegnung mit einem Kraken. Das schleimige Tier lebt in einer Felsspalte, würde gern einen Menschen fressen und besitzt vierhundert Saugnäpfe. Das erfundene Ungeheuer wurde mit diesem Werk so populär, dass in Paris eine Tentakelmode ausbrach. Sie wich vor den Hüten der Damen nicht zurück. Das Buch enthält ferner eine Liebesgeschichte, eine Heiligenlegende, einen Abenteuerroman – und, nicht zuletzt, einige der gewaltigsten Naturbeschreibungen in der Geschichte der Literatur. So etwa geht es zu, wenn Victor Hugo einen Sturm beschreibt (in der Übersetzung von Rainer G. Schmidt): „Eine überschwere Wolke zerreißt in der Mitte und stürzt zerstückt ins Meer. Andere Wolken, purpurprall, blitzen und grollen, verdunkeln sich dann schaurig; hat die Wolke ihre Blitze ausgeschüttet, wird sie schwarz; eine erloschene Kohle. Regensäcke platzen zu Nebelschwaden. Hier, wo es regnet, eine Feueresse; dort, wo Flammen aufzüngeln, eine Woge.“ Der Leser kann von Glück reden, wenn Letztere nicht über ihm zusammenschlägt.

Victor Hugo, geboren 1802, gestorben 1885, gehört nicht mehr zu den Schriftstellern, die weithin gelesen werden. Bekannt ist noch der „Glöckner von Notre von Notre-Dame“, der Verfilmungen wegen, und „Die Elenden“, das Musical mit dem Titel „Les misérables“, das seit mehr als dreißig Jahren über die Bühnen der Welt tingelt und bislang von mehr als 130 Millionen Menschen gesehen wurde. Aber die Bücher? Vergessen die Gedichte, etliche davon im Großformat. Verblasst die Theaterstücke, selbst „Hernani“, das Werk, mit dem das romantische Drama begründet wurde (und das die Vorlage für Giuseppe Verdis gleichnamige Oper abgab). Verweht die politische Prosa, die Pamphlete und die offenen Briefe, verflossen der Reisebericht über den Rhein, und verblasst selbst „1793“, der Roman über die späten Jahre der Französischen Revolution. Erstaunlich ist das schon. Denn Victor Hugo, das ist eine Literatur der Erregung und der großen Szenen, das ist Melodram, süßes Idyll und mächtiges Getöse zugleich und vor allem: Es ist mindestens das halbe 19. Jahrhundert, zusammengeballt in einer heroischen Dichtergestalt, wie es sie vorher nicht gab und wie sie auch nicht wiederkehren sollte, beflügelt von einem mächtigen Pathos des Guten und Gerechten, bei vollem Einsatz der Person.

Walburga Hülk beschreibt Hugo mit lässigem Überblick und imponierendem Geschick

Für eine Biografin muss dieses Neben- und Ineinander von Autor und Werk, von öffentlicher Gestalt und literarischer Produktion eine Einladung und eine Verführung zugleich sein: In Frankreich mag Victor Hugo eine vertraute Figur sein, was bedeutet, dass man sich stets auf halb erschlossenem Gebiet bewegt und manches auslassen kann. Im deutschsprachigen Raum betritt man fremdes Terrain. Man muss den gesamten Stoff herbeischaffen, fundamentieren und erklären – und das bei einer Figur, die sich vor allem durch eine methodisch operierende Maßlosigkeit auszeichnet.

Walburga Hülk, emeritierte Professorin für Romanistik an der Universität Siegen, bewältigt diese Aufgabe mit lässigem Überblick und imponierendem Geschick. Sieht es in ihrer Lebensgeschichte Victor Hugos am Anfang noch so aus, als suche sie gelegentlich Zuflucht in schiefen Floskeln – „die Pariser Kulturszene war … hitzig und kämpferisch“ –, wird die Darstellung im zweiten Drittel souverän: Dann hat Walburga Hülk ihre Art des Zugriffs gefunden. Man möchte sie eine akademisch domestizierte Begeisterung nennen, wobei beide Seiten, die Wissenschaft und der Enthusiasmus, ihre besten Seiten zeigen.

Wer Hugo nicht liest, verpasst ein großes Stück des 19. Jahrhunderts

Walburga Hülks Biografie ist die Geschichte eines öffentlichen Intellektuellen, der auch ein Schriftsteller war, nicht umgekehrt. Sein Ort war nicht das Fenster, aus dem man auf die Straße blicken konnte, er war das Gegenteil eines Flaneurs, des Meisters der distanzierten Nähe. Wo er war, war Agora, war Marktplatz und Gedränge. Dort erhob er die Stimme und sprach zu den Menschen, und wenn er fast zwanzig Jahre im Exil lebte, zuerst auf der Kanalinsel Jersey, dann auf dem benachbarten Eiland Guernsey, so bedeutete das lediglich, dass das Volk mit dem Schiff anreisen musste – oder (was eher zutraf), dass die modernen Medien, vor allem das Zeitungswesen, so weit entwickelt waren, dass sie körperliche Präsenz ersetzen konnten. Zwar spielt ein großer Teil der Werke Victor Hugos in der Vergangenheit, so „die Elenden“ (von 1815 bis 1832), so das Drama „Der König amüsiert sich“ (um 1520), so das philosophische Gedicht „Der Esel“ (die Weltgeschichte), und der Autor ließ es nicht an historischer Recherche fehlen. Im Inneren einer jeden Geschichte aber schnauft ein kleines republikanisches Kraftwerk. Walburga Hülk sieht es dampfen, wider Napoleon III. und die Herrschaft eines sich aristokratisch aufblasenden Finanzkapitals, wider die Sklaverei, für die Überlebenden der Pariser Kommune, und sie betrachtet es, wenn nicht mit Sympathie, so doch mit Anteilnahme.

Walburga Hülk: Victor Hugo. Jahrhundertmensch. Eine Biographie. Matthes und Seitz Verlag, Berlin 2024. 504 Seiten, 38 Euro. (Foto: Verlag)

Die Anteilnahme ist im Zweifelsfall diskret, aber sie lässt nichts aus, auch nicht, wenn es um moralisch eher zweideutige Dinge im Leben des Dichters geht, um die übergroße Macht etwa, die der Familienmensch Victor Hugo für seine Nächsten darstellte. Seine Tochter Adèle verlor darüber den Verstand (François Truffaut machte im Jahr 1975 aus diesem Stoff einen seiner besten Filme). Oder wenn vom erotischen Furor die Rede sein muss, mit dem sich Victor Hugo bis ins hohe Alter den Frauen zuwandte – was unter anderem dazu führte, dass zumindest eine von ihnen, nämlich die Schauspielerin Juliette Drouet, ihm ein Leben lang diente. Einen „Jahrhundertmenschen“ nennt Walburga Hülk den Mann. Die Bezeichnung ist korrekt und gut gewählt: Das neunzehnte Jahrhundert spiegelte sich in diesem Schriftsteller, von der Julirevolution 1830 über die Gespensterbeschwörungen bis zur Pariser Weltausstellung 1878, von den Auseinandersetzungen um das Urheberrecht bis zu den vollgestopften Interieurs, in denen kein Zentimeter ohne Symbolik war. Victor Hugo mag ein Schriftsteller sein, dessen Werke man hierzulande nicht mehr liest. Diese Biografie aber lässt deutlich werden, was man darüber versäumt: vielleicht nicht ein ganzes Jahrhundert, aber doch ein großes Stück davon.