
Der Tipp kam von einem Freund, der seit 40 Jahren in Kyoto lebt. „Wenn ihr nach Nara fahrt, dann lasst euch keinesfalls den etwas abseitig gelegenen Horyu-ji-Tempel entgehen.“ Nara, das ist die erste Hauptstadt Japans, gegründet im achten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, lange vor Kyoto oder Edo, dem heutigen Tokyo.
Alle fahren nach Japan, erst recht seit der Yen so billig ist. 33 Millionen Touristen waren es im vergangenen Jahr. Und fast alle fahren nach Nara; von Kyoto ist es nur ein Katzensprung. Nara ist monumental, laut, repräsentativ. Es gibt dort eine der größten Buddha-Statuen der Welt. Für den Guss wurden 437 Tonnen Bronze, 130 Kilo Gold und sieben Tonnen Wachs verwendet. Allein das Nasenloch des Buddhas ist einen Meter hoch und fünfzig Zentimeter breit; links von der Statue haben sie eigens eine entsprechend große Öffnung durch eine hölzerne Säule gebohrt: die Besucher machen sich einen Spaß und schauen, ob sie schlank genug sind und dem Buddha durch die Nase klettern können. Und versprechen sich Glück oder Erleuchtung davon im nächsten Leben.
Zwischen den Tempeln Naras lungern zahme Hirsche; 1300 sollen es sein, im Buddhismus sind sie heilig. Sie werden gefüttert und gehätschelt. Und wenn sie genug gegessen haben, dann verneigen sie sich artig vor den Touristen. So kriegt man auch kleine Kinder in eine antike Tempellandschaft. Alles ist ein großes insta- und tiktoktaugliches Volksfest. Man muss es mögen.
Eine schlanke Frauengestalt mit gütigem Gesichtsausdruck
Umso größer der Kontrast des fünfzehn Kilometer südlich von Nara gelegenen Horyu-ji Tempels, zu dem uns unser Freund aus Kyoto geschickt hat. Wir erreichen das Anwesen am späten Nachmittag, ermüdet von allzu viel buddhistischer Monumentalität. Eine an christliche Klöster erinnernde, von einem Kreuzgang umgebene Tempelanlage aus dem Jahr 607 mit Haupthalle und Pagode in der Mitte, den Blick sammelnd. Größer könnte der Gegensatz zur politisch machtvollen Architektur Naras nicht sein.

Und dann steht sie vor uns. Eine schlanke Frauengestalt in menschlicher Größe. Ihr Gesichtsausdruck ist gütig, wir meinen, ein die Mundpartie umspielendes Lächeln zu erkennen. In der linken Hand hält sie ein Gefäß, ihre Rechte ist zu einer Segensgeste geöffnet. Ein Diadem umkränzt ihren Kopf. Wir würden es einen Heiligenschein nennen.
Selten haben wir eine Skulptur gesehen, deren Anblick uns derart spontan berührt hat, deren Ausdruck zu sagen scheint: Habt keine Angst, ich schütze euch. In der westlichen Ästhetik des frühen 20. Jahrhunderts hätte man von Epiphanie gesprochen. Es ist das plötzliche Aufleuchten einer emotionalen Regung, das einen ergreift. Wie weggeblasen war die Müdigkeit des langen Nara-Tages.
„Begreifen, was uns ergreift“
Welche Botschaft hat die Ungekannte im Horyu-ji-Tempel? Ist es vermessen, von einer religiösen Erfahrung zu sprechen, wo wir doch in einem Museum stehen und die Unbekannte von Glas und mutmaßlich auch einer Alarmanlage geschützt wird? Indes haben ihre Schöpfer sie erkennbar als kultisch-religiöse Skulptur geschaffen, primär also nicht zur kunsthistorischen Deutung des Faltenwurfs. So sehr die geöffnete Hand Schutz verspricht, so sehr besteht die Fremde auf Distanz. Ihr Oberkörper neigt sich auf geheimnisvolle Weise nach hinten. Niemand soll ihr zu nahe kommen und ihre Aura zerstören.
„Begreifen, was uns ergreift“, so hat der Schweizer Literaturwissenschaftler Emil Staiger die Aufgabe in der Begegnung mit Kunst benannt. Auf die Reihenfolge kommt es an. Zu häufig wird der religiöse Erfahrungsraum außer Acht gelassen, aus dem heraus und in den hinein solche Figuren entstanden sind. Zur Kunst hat man sie erst später erklärt. Noch bevor der Bildungsbürger seinen Baedeker zückt (hier wäre es Seite 433 in der 11. Auflage 2011), weil er wissen will, was er da sieht und weil er vom japanischen Buddhismus des sechsten oder siebten Jahrhunderts keinen Schimmer hat, bevor es also ans Nachschlagwissen geht, hat die schöne Unbekannte längst den Betrachter in ihren Bann gezogen und ihm erlaubt, sich der von ihr vermittelten existenziellen Erfahrung (Plötzlichkeit, Geborgenheit, Angstfreiheit, Schönheit) überlassen zu dürfen.

Natürlich sind wir Ignoranten. Aber ist der Reisende nicht wesensmäßig ein Ignorant? Von den Stationen seiner Reise hat er nicht mehr als eine Vorahnung, genau deshalb reist er ja. Die Kudara Kannon, so der Name unserer Unbekannten, ist weltberühmt; schon viele Betrachter vor uns haben sich von ihr berühren lassen. Kannon, so lernen wir, ist die japanische Bezeichnung einer Gestalt, die im indischen Buddhismus Avalokiteśvara heißt. Kannon ist ein Wesen, das zwar Erleuchtung erreichen könnte, aber aus Mitgefühl in der Welt bleibt, um anderen zu helfen. Sie hört die Schreie der leidenden Welt und eilt zu Hilfe, weshalb sie in Japan „Hörende der Stimmen“ genannt wird. Meist wird sie geschlechtslos dargestellt. Unsere Kudara Kannon kommt uns weiblich vor, wenngleich die Formen des Körpers zurückgenommen sind, fast androgyn.
Die Kunsthistoriker erklären die Anmut der schönen Gestalt aus der Balance von Spiel- und Standbein, wodurch Hüfte und Schultern nicht nur gegeneinanderkippen, sondern so stark geschwungen sind, dass die Körperlinie eine weiche, doppelte Kurve beschreibt. Doch überlassen wir die weitere, durchaus zum „Begreifen“ nützliche Beschreibung der Körperlinien den Fachleuten, um uns der Frage zuzuwenden: Warum reist der Mensch?

Vor der Kudara Kannon stehend, gesellt sich zur religiösen Ergriffenheit noch ein Akt der Bescheidung des Westlers. Das siebte Jahrhundert in Europa war eine dunkle Zeit, zivilisatorisch weit und breit nichts los: Spirituelle Anmut des Figürlichen in Ostasien versus Verlust von künstlerischer Fertigkeit und symbolischem Naturalismus im europäischen frühen Mittelalter. Es sollte in Europa bis mindestens ins dreizehnte Jahrhundert dauern, bis die christliche Gotik dem frühen japanischen Buddhismus Ebenbürtiges an die Seite zu stellen wusste.
Vielleicht spricht uns die Kudara Kannon – wie zuvor schon der klösterliche Kreuzgang – unbewusst auch deshalb so sehr an, weil die „Menschlichkeit“ der Figur uns gerade aus der europäischen Gotik seit Kindheit vertraut ist. Sie wäre uns quasi immer schon nah gewesen, weil wir sie mit den Augen des Europäers betrachtet haben. Womöglich sehen asiatische Betrachter sie vollkommen anders?
„Das lohnt sich“, pflegt der Reisende dem nach ihm Reisenden mit auf den Weg zu geben. Die Reiseführer machen daraus ihr Sterne-Ranking: Zwei Sterne sind einen Umweg wert, drei Sterne lohnen eine eigene Reise. Ob wir uns ergreifen lassen und ergriffen werden, das vermögen die Sterne uns nicht zu verraten. Existenziell-religiöse Erfahrungen sind weder baedeker-, noch tiktoktauglich.
