Dreieinhalb Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung soll Deutschland künftig für den Verteidigungshaushalt ausgeben. Finanziert durch zusätzliche Kredite. Dafür zumindest plädiert der grüne Spitzenkandidat Robert Habeck in einem gestern veröffentlichten Interview mit dem Spiegel. Die politische Brisanz dieser Forderung ergibt sich zunächst aus der schieren Zahl. Gerade erst hat Deutschland – erstmals seit 1991 – wieder das Zwei-Prozent-Ziel der Nato erreicht. Was Habeck nun fordert, liefe fast auf eine Verdopplung des aktuellen Wehretats hinaus.
Doch auch Habecks Begründung birgt erhebliches Konfliktpotenzial. Deutschland, so der Vizekanzler, müsse nämlich „demokratische Machtpolitik“ betreiben. Es müsse, so führte er aus, führender Vertreter einer europäischen Sicherheitsstrategie werden, die auch militärisch einen robusten Gegenpol zur Achse der Autokratien – Russland, Iran, China, Nordkorea – bildet.
Wie offensiv Habeck das Reizwort „Machtpolitik“ in den Raum stellt, ist für die außenpolitische Debatte der Bundesrepublik zwar nicht vollkommen neu, aber gerade im Mitte-Links-Spektrum mindestens ungewöhnlich. Dass der grüne Spitzenkandidat dem Begriff ein „demokratisch“ voranstellt, wird manche Kritiker vermutlich nicht davon abhalten, ihm verkappte Großmachtphantasien zu unterstellen.
Dabei ist Habecks Forderung nach einer erheblichen Erhöhung des Verteidigungshaushalts aus grüner Binnensicht zunächst doppelt konsequent. Zum einen hat die Partei, die einst aus der Friedensbewegung der 1970er- und 1980er-Jahre hervorging, schon vor langer Zeit eine sicherheitspolitische Transformation durchlaufen. Spätestens seit der Zustimmung zum Kosovo-Einsatz der Bundeswehr im Jahr 1999 verabschiedeten sich die Grünen von ihren pazifistischen und antimilitaristischen Gründungsleitsätzen.
Strategische Zwickmühle für die Union
Frieden sowie die Verteidigung von Menschenrechten, so lautet die mittlerweile vorherrschende Position in der Partei, müssen im Zweifel auch durch Waffengewalt gesichert werden. Entsprechend forderten die Grünen bereits vor Putins Vollinvasion der Ukraine im Februar 2022 die Lieferung von Defensivwaffen an die Ukraine und gehören heute zu ihren vehementesten Unterstützern. Es ist politisch schlüssig, dass die Partei angesichts der starken Aufrüstung in Russland, China oder Iran nun dafür plädiert, rüstungspolitisch nachzuziehen.
Auch wahlkampfstrategisch ist Habecks Forderung folgerichtig. Schließlich dürften jene, die eine militärische Abrüstung sowie die Einstellung der deutschen Waffenlieferungen an die Ukraine wünschen, ohnehin längst nicht mehr grün wählen. Vielmehr bringt Habeck so die Union in Bedrängnis. Denn wie soll die sich selbst und ihren Wählerinnen und Wählern noch erklären, dass sie die Zusammenarbeit ausgerechnet mit jener Partei ausschließt, die ihr in der Außen- und Verteidigungspolitik am nächsten steht?
Doch noch wichtiger ist: Habecks Vorstoß eröffnet eine außenpolitische Diskussionsgelegenheit, die Deutschland dringend braucht. Über Außenpolitik wird hierzulande zwar viel gestritten, aber meist mit einem verengten Blick. Da geht es oft und viel um aufgeladene Themen wie die Waffenlieferungen an die Ukraine, Friedensverhandlungen mit Putin oder um die Stationierung US-amerikanischer Raketen auf deutschem Boden. Die übergeordnete Frage, welche geopolitische Rolle die Bundesrepublik überhaupt spielen soll, bleibt hingegen meist außen vor.
Am Beispiel der Ukraine ist das besonders gut sichtbar. Selbst gesetzt den Fall, es käme zu einem Waffenstillstand oder gar Friedensschluss, bei dem die Ukraine de facto auf die von Russland besetzten Gebiete verzichtet, ist die Rüstungsfrage damit ja nicht vom Tisch. Im Gegenteil: Ein Waffenstillstand wird nur Bestand haben können, wenn die Ukraine westliche Sicherheitsgarantien erhält. Und dann lautet die Anschlussfrage: Wer stellt diese bereit? Die Vereinigten Staaten, die ihren Fokus schon seit Jahren in die Pazifikregion verlagern, werden dafür die Europäer in die Pflicht nehmen. Erst recht unter einem Präsidenten Trump.
Polen wendet sich schon ab
Das heißt nicht, dass die bundesdeutsche Aufrüstung alternativlos wäre. Jan van Aken, Ko-Vorsitzender der Linkspartei und ehemaliger Biowaffeninspekteur bei den UN, hat ja durchaus recht, wenn er sagt, dass zivile Mittel der Sicherheits- und Verteidigungspolitik oft nicht ausgeschöpft würden. Tatsächlich könnte man etwa viel konsequenter gegen die russische Schattenflotte in der Ostsee vorgehen oder die Sanktionen gegen Russland ausweiten. Ebenso ist richtig, dass ein verteidigungspolitischer Realismus, der auf starke Aufrüstung setzt, zur selbsterfüllenden Prophezeiung werden kann, also jenen Kreislauf der Militarisierung von Politik mitbetreibt, auf den er dann wieder zu reagieren vorgibt.
Doch so richtig diese Argumente gegen einen militärischen Tunnelblick sind: Sie neigen leider selbst zur Eindimensionalität. Jan van Aken schlug unlängst etwa eine „10 Prozent für alle“-Initiative vor, wonach weltweit zehn Prozent aller konventionellen Waffen abgerüstet werden sollen. Dies könne gelingen, weil die relative Abschreckungsfähigkeit eines jeden Landes dann ja gleich bliebe. Manch einer mag das als notwendigen Out-of-the-box-Impuls begreifen. Andere dürften sich veralbert vorkommen.
Denn die geopolitische Realität ist, dass Putins Russland nicht nur seine mörderischen Angriffe gegen die Ukraine fortsetzt, sondern auch einen hybriden Krieg in der Ostsee führt, politischen Einfluss in Rumänien, Georgien oder im Westbalkan ausübt und auch hierzulande an einer Destabilisierung des politischen Systems arbeitet. Letzteres gilt – wenn auch in abgeschwächter Form – ebenfalls für China und Iran. Ebenso gehört zu dieser geopolitischen Realität die Frage der europäischen Solidarität. Enttäuscht von Deutschland, wendet sich etwa Polen sicherheitspolitisch inzwischen den skandinavischen und baltischen Ländern zu, um eine stärkere Abschreckung gegenüber Russland zu organisieren.
Dieser Wahlkampf bietet allen Parteien die Chance, einmal ihre langfristige Vorstellung von Deutschlands Rolle in Europa und der Welt vorzustellen. Die Befürworter einer Aufrüstung könnten erklären, wie eine „demokratische Machtpolitik“ dauerhaft finanziert werden soll – und Eskalationsspiralen vermieden werden können. Ihre Gegner hingegen könnten erläutern, wie das gehen soll, Putin oder Xi Jinping ohne höhere Verteidigungsausgaben abzuschrecken. Und sie müssten dann en passant auch den Polen und Balten erklären, dass diese bei der Finanzierung einer europäischen Sicherheitsstrategie bitte nicht zu sehr auf die größte Volkswirtschaft Europas hoffen dürften.
Eines jedenfalls wäre für solch eine Debatte besonders wertvoll: Ehrlichkeit. Egal wie man zu Habecks Vorstoß steht, zumindest verzichtet er auf allzu verdruckste Phrasen und öffnet damit den Raum für eine grundsätzliche Auseinandersetzung über Deutschlands geopolitische Rolle der Zukunft. Und schon das ist ein Fortschritt für die hiesige Debatte.