Verfassungsrichterwahl: Dafür steht Frauke Brosius-Gersdorf


Zuvor war bekannt geworden, dass die SPD offenbar darauf verzichtet, Brosius-Gersdorf für das Amt des Gerichtsvizepräsidenten vorzuschlagen. Die F.A.Z. erfuhr von Teilnehmer der Unionsfraktionssitzung am Montagabend, dass der Fraktionsvorsitzende Jens Spahn sich in der Fraktionssitzung dementsprechend geäußert hatte.

Die Nominierung von Brosius-Gersdorf war in den letzten Tagen heftig kritisiert worden – sie hat sich in den vergangenen Jahren immer wieder auf polarisierende Weise zu gesellschaftspolitischen Fragen positioniert. Mehrere CDU/CSU-Bundestagsabgeordnete und Landesminister der Union stellten deshalb die Eignung von Brosius-Gersdorf für das Amt der Verfassungsrichterin infrage. Um welche Auffassungen der Potsdamer Staatsrechtsprofessorin geht es konkret?

Menschenwürde und Abtreibung

Frauke Brosius-Gersdorf arbeitete in der Regierungskommission der Ampelkoalition zu einer möglichen Reform des Schwangerschaftsabbruchs mit. Im von ihr verantworteten Kapitel des Kommissionsberichts ist zu lesen, für die Geltung der Menschenwürde „erst für den Menschen ab Geburt“ sprächen „gute Gründe“. In einem Festschriftbeitrag zu Ehren ihres Doktorvaters, des Rechtsphilosophen Horst Dreier, schrieb Brosius-Gersdorf im vergangenen Jahr, „die Annahme, dass die Menschenwürde überall gelte, wo menschliches Leben existiert“, sei „ein biologistisch-naturalistischer Fehlschluss“.

Diese Auffassung steht im Widerspruch zur Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Die Karlsruher Richter schrieben in ihrem Abtreibungsurteil im Jahr 1993, die Menschenwürde komme „schon dem ungeborenen menschlichen Leben zu“. Für Brosius-Gersdorf sind Menschenwürde und Lebensschutz hingegen „rechtlich entkoppelt“. Die Potsdamer Staatsrechtsprofessorin stützt ihre Haltung auf die Kommentierung Horst Dreiers zum Menschenwürde-Artikel im Grundgesetz. Dreier wurde im Jahr 2008 von der SPD als Bundesverfassungsrichter nominiert. Seine Wahl scheiterte an der Union, die sich an seinen Formulierungen zur Menschenwürde störte. Brosius-Gersdorf schreibt hingegen, Dreier habe beim Thema Menschenwürde „Meilensteine in der rechtswissenschaftlichen Diskussion gesetzt“.

Die Ansichten von Brosius-Gersdorf zur Menschenwürde werden auch von etlichen Juristen, die ein liberaleres Abtreibungsrecht befürworten, nicht geteilt. Dies gilt auch für Teile der SPD. Die frühere Bundesgesundheitsministerin Ulla Schmidt hat vor der Sitzung des für die Verfassungsrichterwahl zuständigen Bundestagsausschusses am Montag hervorgehoben, dass für sie die Menschenwürde bereits vor der Geburt gilt. „Für mich als Sozialdemokratin und Bundesvorsitzende der Lebenshilfe ist es wichtig, dass wir niemals zwischen lebenswertem und nicht lebenswertem Leben unterscheiden. Jedes Leben ist lebenswert – und hat Menschenwürde auch schon im Mutterleib“, sagte Schmidt der F.A.Z.

Die frühere Bundesgesundheitsministerin ist seit 2012 Bundesvorsitzende der Bundesvereinigung Lebenshilfe, die sich für Menschen mit geistiger Behinderung einsetzt. Schmidt sagte der F.A.Z., „dass die Menschenwürde bereits im Mutterleib gilt“, sei auch für den „gesellschaftlichen Umgang mit Menschen mit Behinderungen wichtig“.

Kopftuch und staatliche Neutralität

In einem Gastbeitrag für den „Tagesspiegel“ schrieb Frauke Brosius-Gersdorf im Jahr 2020, das muslimische Kopftuch verstoße bei Rechtsreferendarinnen „nicht gegen das Neutralitätsgebot des Staates“. Zuvor hatte das Bundesverfassungsgericht entschieden, dass ein Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen zulässig ist, da der Staat auf das „äußere Gepräge“ der Justiz – etwa durch die Robenpflicht für Richter – besonderen Einfluss nehme. Abweichende Verhaltensweisen der Amtsträger seien dem Staat deshalb „zurechenbar“ und könnten von ihm unterbunden werden. Brosius-Gersdorf schreibt, dass Karlsruhe damit das verfassungsrechtliche Neutralitätsgebot „verkennt“.

Die Potsdamer Professorin widerspricht mit ihrer Kritik nicht nur dem Mehrheitsbeschluss der Richter, sondern auch Ulrich Maidowski. Der Verfassungsrichter sprach sich zwar in einem Sondervotum gegen ein Kopftuchverbot für Rechtsreferendarinnen aus, weil seine Kollegen „die besondere Situation“ des juristischen Vorbereitungsdienstes „im Unterschied zu einer dauerhaften Tätigkeit im richterlichen oder staatsanwaltlichen Dienst“ nicht hinreichend berücksichtigen würden.

Maidowski stimmt aber mit der Senatsmehrheit darin überein, dass bei Richterinnen und Staatsanwältinnen das Kopftuch ein Neutralitätsproblem verursachen könne. Brosius-Gersdorf schreibt hingegen, ein Kopftuchverbot für Richterinnen und Staatsanwältinnen laufe auf ein „Berufsverbot“ hinaus.

Quoten im Wahlrecht

In einem Interview mit der „taz“ sagte Frauke Brosius-Gersdorf, sie finde es richtig, „gesetzliche Quoten zur Steigerung des Frauenanteils in Parlamenten vorzuschreiben“. Die Potsdamer Staatsrechtsprofessorin schlägt vor, die Parteien dazu zu verpflichten, „in den Wahlkreisen Bewerbertandems aus Mann und Frau“ aufzustellen.

Das Bundesverfassungsgericht hat sich in seiner Rechtsprechung bislang noch nicht inhaltlich mit Frauenquoten im Wahlrecht beschäftigt. Die Landesverfassungsgerichte von Brandenburg und Thüringen haben allerdings im Jahr 2020 sogenannte „Paritätsgesetze“ verworfen. Diese sahen vor, die Parteien zu verpflichten, auf ihren Kandidatenlisten abwechselnd Männer und Frauen zu platzieren. In einem Gastbeitrag für den „Tagesspiegel“ warf Brosius-Gersdorf dem Thüringer Verfassungsgerichtshof wegen seines Urteils ein „schwerwiegendes Abwägungsdefizit“ vor. Er habe den Gleichstellungsauftrag des Grundgesetzes nicht ausreichend berücksichtigt.

Während der Corona-Pandemie veröffentlichte Frauke Brosius-Gersdorf gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Leipziger Juraprofessor Hubertus Gersdorf, einen Text, in dem beide eine Corona-Impfpflicht als mit dem Grundgesetz vereinbar ansehen und „darüber nachdenken, ob mittlerweile eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Einführung einer Impfpflicht besteht“. Das Bundesverfassungsgericht hat sich nicht mit einer allgemeinen Corona-Impfpflicht beschäftigt. Entsprechende Überlegungen fanden im Bundestag keine Mehrheit.