Verbessert sich die Lage im Gazastreifen nach der Waffenruhe?

Shehda Hijazi ist erleichtert. „Die Situation in Gaza hat sich nach dem Waffenstillstand beruhigt“, sagt der 42 Jahre alte Palästinenser aus Khan Yunis am Telefon. Er spricht das arabische Wort für Waffenstillstand – „Hudna“ – mehrfach aus, als könne er nicht glauben, dass der Gazakrieg wirklich vorbei ist. Er höre keine Panzer mehr, keinen Beschuss, keine Bomben. „Die Waffen schweigen“, sagt er. „Ob das so bleibt? Wir trauen dem Ganzen noch nicht.“

Hijazi sagt, dass sich auch die humanitäre Lage im Gazastreifen seit dem Wochenende verbessert habe. Mehr Hilfslieferungen kämen in den Küstenstreifen, und „die Märkte auf den Straßen und in den Supermärkten beginnen sich allmählich mit Lebensmittel zu füllen“, erzählt er. Die Lebensmittelpreise gingen runter. „Und solange weitere Hilfslieferungen hineingelangen, werden die Preise weiter sinken“, sagt er.

Die erste Phase des Abkommens zur Waffenruhe im Gazakrieg sieht neben der Freilassung der Geiseln und der palästinensischen Gefangenen auch die Verbesserung der humanitären Lage im Gazastreifen vor. In den vergangenen Monaten war dort immer wieder von einer Hungerkrise die Rede. Laut dem teilweise von der Terrororganisation Hamas kontrollierten Gesundheitsministerium in Gaza gab es 461 Todesfälle aufgrund von Unterernährung seit Oktober 2023. Ende August dieses Jahres wurde im Norden von der Initiative Integrated Food Security Phase Classification offiziell eine Hungersnot erklärt. Das Komitee aus Fachleuten warnte, dass das auch in anderen Gebieten drohe. Israels Ministerpräsident geriet unter Druck, die Versorgung zu verbessern.

Laut dem Zwanzig-Punkte-Plan des amerikanischen Präsidenten Donald Trump sollen nach Annahme des Abkommens täglich deutlich mehr Lastwagen mit Hilfslieferungen in den Gazastreifen gelangen – nämlich 600 am Tag, eine Zielmarke der Vereinten Nationen (UN). Laut der Organisation waren es in den ersten Tagen seit der Waffenruhe jedoch noch deutlich weniger, seit der Waffenruhe sind für das World Food Programm (WFP) einigen Angaben zufolge nur 173 Lastwagen in das Küstengebiet gefahren. Diese müssen dann noch an die Ausgabestellen gelangen, wegen der zerstörten Infrastruktur in dem Küstengebiet ist auch das eine Herausforderung. Im Sommer wurden Lastwagen mit Hilfslieferungen außerdem zum großen Teil von hungernden Menschenmassen geplündert.

Eine „Flut an Hilfe“ sei jetzt notwendig

Das Verteilsystem ist weitgehend von den UN abhängig, Verteilstellen der Gaza Humanitarian Foundation im Gazastreifen wurden Beobachtern zufolge wieder geschlossen. Ein Pressesprecher der Organisationen teilte mit, dass es aktuell „taktische Änderungen“ gebe. In Trumps Gaza-Plan hieß es zu der Verteilung von Hilfslieferungen, dass nur Organisationen involviert sein dürften, die weder mit Israel noch mit der Hamas in Verbindung stünden.

Das WFP übernimmt den Großteil der Lieferungen. Auch Antoine Renard, der Landesdirektor des WFP-Büros für die palästinensischen Gebiete, sagt, dass es noch Hürden für ausreichend Hilfslieferungen gebe – angesichts des Ausmaßes der Hungerkrise müsse jetzt aber eine „Flut an Hilfe“ in den Gazastreifen gelangen. Im Gespräch mit der F.A.Z. kritisiert er, dass zu viele Grenzübergänge immer noch nicht für Hilfslieferungen geöffnet worden seien. Laut Renard sind die Grenzübergänge Erez und Zikim im Norden sowie Rafah im Süden für die Lastwagen geschlossen. Er hofft, dass sich das diese Woche noch ändert.

Bereits im September habe sich die Lage deutlich verbessert, so Renard. Nach der offiziellen Erklärung der Hungersnot sei die Zahl der Lieferungen höher und konstanter gewesen. Etwa 40 bis 45 Prozent der benötigten Grundnahrungsmittel habe das WFP seitdem in den Gazastreifen bringen können. „Die Preise sind also wirklich stark gefallen. Aber das muss nachhaltig sein und aufrechterhalten werden, und ich denke, dass der Waffenstillstand eher den Anfang als das Ende dieses Weges darstellt.“

Im August habe sich eine Familie im Durchschnitt einen Teller Essen am Tag teilen müssen, im September seien es bereits zwei Portionen gewesen, so Renard. Und der Waffenstillstand stimmt ihn nun „vorsichtig optimistisch“, dass Familien wieder ausreichend ernährt werden können, wie während des Waffenstillstands Anfang des Jahres. „Es ist kein logistisches Problem“, betont er öfter, wie auch UN-Organisationen immer wieder hervorheben, dass sie genügend Lagerbestände vor Ort hätten. Dabei geht es nicht nur um Nahrungsmittel, sondern auch um die medizinische Versorgung, den Aufbau von Unterkünften und den Zugang zu Wasser. „Wir brauchen den entsprechenden politischen Willen“, sagt Renard.

Palästinenser mit Nahrungsmitteln im Oktober im Gazastreifen
Palästinenser mit Nahrungsmitteln im Oktober im GazastreifenReuters

Er hofft dafür auch auf eine Wiederbelebung des kommerziellen Markts, soweit die Lage es zulässt – und genügend Lieferungen in den Gazastreifen gelangen. Der Familienvater Hijazi berichtet, dass etwa Fleisch, Gemüse, Schokolade und Reinigungsmittel weiterhin teuer seien. Für ein Kilo Zwiebeln, Tomaten oder Kartoffeln spüre er die bessere Lage bereits: Er habe dafür vor dem Waffenstillstand noch 78 Schekel (rund 21 Euro) bezahlt, jetzt würden sie nur noch 15 Schekel (knapp vier Euro) kosten.

Die Hamas richtet mutmaßliche Kollaborateure hin

Es gibt also positive Signale. Auch Renard vom WFP sagt, dass etwa Brot kein Luxusprodukt mehr sei, auch die Plünderungen nähmen ab, Regale würden sich langsam füllen. Und viele der etwa zwei Millionen Einwohner kehren in ihre Heimatorte zurück. Das ist aber erst der Anfang eines langen Weges. Hijazi stammt aus Rafah im südlichen Gazastreifen. Die Stadt sei komplett zerstört worden, er könne noch nicht zurückkehren, erzählt er. Das Haus seiner Familie liege in Trümmern. „Trotzdem möchte ich nach Rafah, selbst wenn ich auf diesen Trümmern sitzen muss.“ Vor allem darunter werden die Palästinenser aber noch an das Schrecken der Kriegsjahre erinnert. Denn die Waffenruhe ermöglichte es ihnen in den vergangenen Tagen auch, Leichen zu bergen. Das sorgte dafür, dass die Zahl der Toten im Gazastreifen zuletzt stark angestiegen ist: Das Gesundheitsministerium beziffert sie auf 68.000 seit Beginn des Krieges.

Zerstörte Häuser im Oktober im Gazastreifen
Zerstörte Häuser im Oktober im GazastreifenAP

Hijazi beschreibt die aktuelle Lage als „einen Krieg nach dem Krieg“. „Gaza kämpft jetzt einen Krieg mit sich selbst.“ Er meint damit die Umsetzung der zweiten Phase des Trump-Friedensplans. Demnach soll die Hamas im Gazastreifen entwaffnet werden und politisch keine Rolle mehr spielen dürfen. Seine Aussage beschreibt aber auch die anhaltenden Gefechte in dem Küstengebiet. Berichten zufolge sind zwischen der Hamas und dem einflussreichen Dughmush-Clan in Gaza-Stadt Kämpfe ausgebrochen. Laut der BBC sind dadurch in den vergangenen Tagen etwa 30 Personen ums Leben gekommen. Außerdem kursieren Videos in den sozialen Medien, die zeigen, wie Hamas-Vertreter vermeintliche Kollaborateure brutal hinrichten.

Nachdem sich die israelische Armee aus der Hälfte des Gazastreifens zurückgezogen und die Waffenruhe am Freitagmittag begonnen hat, versucht die Hamas, ihre Kontrolle auf den Straßen wieder zu festigen. Berichten zufolge hat sie den Einsatz von Sicherheitskräften in mehreren Gebieten wieder bedeutend ausgeweitet. Sie kontrollieren demnach Checkpoints und Fahrzeuge – und gehen gegen feindliche bewaffnete Gruppen vor. Fotos zeigen zwischen Gebäudetrümmern stehende Männer mit der Aufschrift „Polizei“ auf der Kappe und einer Waffe in der Hand.

Neben der Stabilität der Waffenruhe und geöffneten Grenzübergängen nennt Renard vom WFP deswegen auch Recht und Ordnung als Grundprämissen, um die humanitäre Lage im Gazastreifen langfristig zu verbessern. Darauf müsse sich die internationale Gemeinschaft auch in den Verhandlungen zur zweiten Phase des Gaza-Abkommens konzentrieren, sagt er. „Das geht über das Welternährungsprogramm hinaus“ – das schulde man der Bevölkerung des Gazastreifens.

Hijazi will von innen heraus etwas gegen die dominante Stellung der Hamas tun – und damit ist er nicht der Einzige. Er fordert Wahlen: „Jetzt schlägt die Stunde der Politik – ohne Waffengewalt.“ Die Zeit der Angst sei vorbei, sagt er. Der Terroranschlag der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 habe das palästinensische Volk „in den Abgrund gestürzt“, das Blutvergießen müsse aufhören. „Wie lange sollen wir den Preis noch zahlen?“