„Vatermal“ am Gorki-Theater: Mütter unter Druck

Der Protagonist leidet. Arda (Doğa Gürer) liegt im Krankenhaus. Die Leberwerte stimmen nicht, was nicht am Saufen liegt, sondern an einer Autoimmun­erkrankung. Ob er überlebt, bleibt unklar. Der Bühnenraum ist daher angefüllt mit blutroten Projektionen (Bühne: Alissa Kolbusch, Video: Sebastian Lempe).

Das sieht mal wie Rosen auf dem Grab aus, es kann sich aber auch um CT-Aufnahmen von Innereien und Zellstrukturen des angegriffenen Blutes handeln. Es fügt sich schließlich zu einer rot ausgeleuchteten Cabaret-Bühne, auf der Kristina Koropecki (Cello) und Mascha Juno (Percussion) für stimmungsvolle Live-Klangwolken sorgen.

In diesem Ambiente läuft das Leben noch einmal vor dem inneren Auge Ardas ab. Das Herumlungern mit den Kumpels vor einem Bahnhof irgendwo im Ruhrgebiet etwa. Als Teenager kiffen sie noch. An der Schwelle zum Twen landet der eine im Knast, ein anderer wird aus Deutschland abgeschoben. Migrantengeschichten, wie das Leben sie schreibt und der Rechtsstaat sie oft genug auch aufdrückt.

Wenig tragische Dimensionen

Interessanter als Arda, der als Figur außer seiner Krankheit und dem vaterlosen Aufwachsen nicht allzuviel tragische Dimensionen aufweist, sind die ­Frauenfiguren dieser szenischen Anordnung. Die Schwester Aylin etwa, die gegen­ die Mutter rebelliert, weil sie als Kind zur Oma abgeschoben wird.

Vatermal -Theaterstück

„Vatermal“ in der Regie von Hakan Savas Mican wieder am 25. 12.2024 und

17. 1. 2025

Trotzdem kümmert sie sich später um die dem Alkohol ergebene Mutter, wischt das Erbrochene auf, passt auch auf Arda auf. Sie haut dennoch ab, entbrennt in Liebe zu einer deutschen Polizistin – was gleich mehrfachen Tabubruch bedeutet: lesbisch, Einlassen mit Deutschen, einer Ordnungshüterin gar.

Flavia Lefèvre spielt diese Aylin tough und kompromisslos. Dass die Mutter nicht gar so ein Scheusal war, wie man sie sich aus den töchterlichen Augen konfigurieren mag, erzählt in mehreren Rückblicken Terziyan. Als junges Mädchen wird auch sie abgeschoben, zur Tante diesmal, weil ihre Eltern zum Geldverdienen nach Deutschland ziehen.

Härte und Druck

Für das Kind ist kein Platz, kein Geld, keine Kinderbetreuung in der Fremde zu erwarten. Das ist der Druck, dem wiederum ihre Mutter ausgesetzt ist. Lefèvre verleiht der Großmutterfigur in einem Kurzauftritt die gleiche Härte, die sie auch als Aylin in ihrer Auseinandersetzung mit der eigenen Mutter hat.

Der Kampf der Frauen aus drei Generationen miteinander und gegeneinander, in den sie verkeilt sind, obwohl sie jeweils nur das Beste wollen, gerade auch füreinander, erweist sich wegen der Präsenz der beiden Darstellerinnen als tragende Säule des Abends. Terziyan hat dabei die größte Bandbreite. Sie porträtiert eine Frau, die nach dem Leben greift, erst scheu, später resolut. Nach vielen Enttäuschungen geht der Griff nicht mehr zum Leben, sondern zu Flaschen mit einem blauen Etikett und dem Markennamen „Jelzin“.

Hakan Savaş Mican hat diese Familiengeschichte in den Kunstraum einer rot ausgeleuchteten Bar transportiert. Das macht sie zur Parabel, zu einer Geschichte, die bewältigt ist, die sogar in Songs erzählt werden kann, mit denen die Interpreten gewisse Berühmtheit erlangen.

Damit wird auch demonstriert, dass Geschichten vom migrantischen Aufwachsen nicht nur – endlich – Platz finden in der Öffentlichkeit, sondern dass sie Massenappeal haben und Erfolgsfaktoren sein können. Die Genese von „Vatermal“ spricht dafür. Ardas Lebensgeschichte kam vor sieben Jahren als „get deutsch or die tryin’“ auf der Studiobühne des Gorki heraus.

Später machte Gorki-Dramaturg Öziri den Roman daraus, der diverse Literaturpreise abräumte. Die Romanbearbeitung wiederum kann sich auf der großen Bühne entfalten. Dort dann vor allem als Show der Frauen, was ein weiterer emanzipatorischer Dreh ist.