Wenn ein Handy wirklich aus einer Hand besteht, nämlich einer abgeschlagenen, ein Bergsteiger beim Absturz seinen Kopf verliert und plötzlich zwei hat, und der Rosé-Schampus aus einem Beinstumpf in die Gläser fließt, dann ist man nicht in einem Horrorfilm, sondern bei dem Theaterregisseur Philippe Quesne. Der Meister des ironischen Budenzaubers und beste Freund skurriler Gemeinschaften hat mal wieder eine Gang versammelt. Diesmal nicht Maulwürfe oder Cowboys, Rocker oder Vogelscheuchen, wie in seinen letzten Produktionen, mit denen er dem Publikum das Staunen lehrte. Nein, in seiner neuen Show für das Deutsche Schauspielhaus in Hamburg hat er sich Wesen ausgesucht, die vielleicht die perfekte Essenz sind aus all seinen bisherigen Einzelgängern: Vampire.
Sieben Untote schickt der französische Bühnenromantiker in „Vampire’s Mountain“ aus dem finsteren Wald ins Hochgebirge, und die sonst so einsamen Blutsauger finden sich auf dieser Gruppenreise in absurdes Terrain erstaunlich schnell als frohgemute Weltuntergangspropheten zusammen. Ständig ertönt die Bach-Kantate „Ach wie flüchtig, ach wie nichtig ist der Menschen Leben!“ in verschiedenen musikalischen Stilen. Die Fledermenschen mit den langen Zähnen üben sich im dramatischen Auftritt aus dem Sarg, tanzen mit Skeletten im Metallica-T-Shirt in einer verlassenen Ski-Station und haben Sehnsucht nach der Angst. Aber selbst, wenn wegen des menschengemachten Klimawandels die spitzen Berge abschmelzen, und zwar die Felsen, nicht der Schnee, fürchten sie sich nicht. Sie streuen ein paar Flocken auf die spitzen Gipfel, schon wachsen die Alpen wieder wie Zähne, und ihre pudrigen Lawinen flüstern „Love“.

Für einen Philippe-Quesne-Abend, wo komische Typen oft lange ratlos herumstehen, ohne dass man wirklich erkennen könnte, was die Frage oder die Situation eigentlich ist, hat dieser Ausflug (mit den Ensemble-Wiedergänger Sachiko Hara, Sasha Rau, Bettina Stucky und Samuel Weiss, den unsterblichen Getreuen aus Quesnes Vergangenheit Jean-Charles Dumay und Sébastien Jacobs sowie dem Tasten-Geist Martin Zamorano) ein erstaunliches Tempo. Vermutlich nicht nur, weil es zum Thema „Vampir“ so viel Material gibt, aus dem sich groteske Szenen entwickeln lassen. Der vom ewigen Leben infizierte Monstermensch ist hier die bleiche Metapher für jene Seuche der zweibeinigen Parasiten, die als ökologische Blutsauger den Wirt töten, der sie ernährt. Also für den von sich selbst bedrohten Menschen. Und Alarm mahnt zur Eile. Aber keine Hektik, bitte.
Vom Bildungsstandpunkt aus lässt sich in dem Stoff, den Philippe Quesne in der frostigen Bergluft kristallisiert, eine Hommage an die englischen Exzentriker erkennen, die den Alpinismus erfanden und die Gothic Novel, den Dandy und den schrägen Humor. Tatsächlich war es Lord Byron, der Schönling mit dem Klumpfuß, der die erste Vampirgeschichte erfand, als er mit Percy und Mary Shelley im Jahr ohne Sommer 1816 am Genfer See in der Villa Diodati festsaß, wo sie sich Gruselgeschichten erzählten und letztere Frankensteins Monster erfand, das am Ende im Eis der Arktis verschwindet.
Melancholie und Ironie gehen bei diesem Atmosphärenzauber Hand in Hand
Im selben Jahr schrieb Byron auch „Darkness“, das berühmte Gedicht über eine Menschheit ohne Sonnenlicht, die sich im Hunger selbst zerfleischt, bis nur noch zwei Todfeinde übrig sind. In einer langen Prozession der Vampire wird diese dunkle Parabel auf eine destruktive Menschheit in humaner Umnachtung zur zentralen Szene der Aufführung. Aber auch hier kommt der moralische Inhalt in flauschige Bademäntel verpackt daher, denn Melancholie und Ironie gehen bei Philippe Quenses Atmosphärenzauber immer Hand in Hand. Und dahinter erscheint dann stets die große Sehnsucht nach dem besseren Menschen, dem Homo ludens mit Gewissen und Humor, wie ihn diese ehrgeizlosen Vampire auf der großen Bühne in aller Herzlichkeit vorspielen.
Besser als Statistiken, Horrormeldungen und vernünftige Ansprachen macht dieser freundliche Untotentanz bewusst, dass es im Kern nur die menschliche Verhaltensänderung sein kann, die unsere Spezies rettet. Diese Vampire sind weder gierig noch egoman, weder rücksichtslos noch neidisch, weder besitzergreifend noch ewig unzufrieden. Vielleicht macht genau das sie unsterblich. Dass sie so sympathisch und freundlich sind bei all dem Blödsinn, den sie an diesem Abend vorführen. Am Ende tanzen sie für das Publikum in einer gigantischen Höhle noch ein Fledermaus-Ballett, auch dieses wieder irgendwie unfertig, ja dilettantisch, aber stolz. Es wirkt wie eine freundliche Warnung in den Saal: Eure Leistung bringt euch alle um! Dann räumen sie auf, verschwinden wieder in ihre Gräber und singen ergreifend: „Ach, wie flüchtig …“
