USA-Reise-Alternative Kanada: Québec und Montréal entdecken

Wenn François Lapointe als Handelsreisender aus dem 19. Jahrhundert verkleidet durch das altehrwürdige Château Frontenac führt, verpasst er seinem geschliffenen Englisch bisweilen einen überzogen französischen oder italienischen Akzent. Unter den funkelnden Kronleuchtern im prunkvollen Ballsaal wirkt der Schlossführer dann endgültig wie ein Relikt aus glorreichen Zeiten, als in Vieux-Québec noch die Gouverneure der französischen Kolonie La Nouvelle France residierten. Seine vorwiegend US-amerikanischen Gäste – am heutigen Morgen aus Texas, Florida und Maryland – sind verzückt.

„Welcome in Québec! Wir wissen hier, was kalt ist, und wir wissen, was heiß ist. Wir haben uns an dieses Wetter angepasst, also fragen Sie nicht, warum wir hier verrückt sind.“

Flugs widmet sich Lapointe dem Schlosshotel mit seinen vielen Türmen, durch das er heute seine Touristengruppe führt. Zahlreiche Gäste aus Hollywood, dem Hochadel und der Haute Politique waren Château Frontenac zu Gast. Queen Elizabeth II., Grace Kelly und Charles de Gaulle nächtigten hier genauso wie Charlie Chaplin, Paul McCartney, Steven Spielberg, Leonardo DiCaprio und Angelina Jolie. Unter strengster Geheimhaltung sollen Winston Churchill und Franklin D. Roosevelt 1943 auf der Quadrant-Konferenz im berühmten „Salon Rose“ mit Blick auf den Sankt-Lorenz-Strom über das Ende des Zweiten Weltkriegs verhandelt haben.

„Es sieht vielleicht aus wie ein französisches Schloss, ist aber viel eher das, was sich ein Nordamerikaner darunter vorstellt“, sagt Lapointe über das 1892 vom New Yorker Bruce Price für die Eisenbahngesellschaft Canadian Pacific Railway nach Vorbild der Loire-Schlösser geplante Hotel. „Sie stehen auf französischen Marmor – französische Renaissance-Schlösser aber nutzten Marmor aus Italien.“

Als Komödiant tingelte der 34-Jährige früher über die Kleinbühnen Québecs. Anderswo in Kanada und in den USA würde man François Lapointe wohl einen ausgesprochenen „Old World Charm“ zusprechen. Hier in Québec, der Hauptstadt der gleichnamigen französischsprachigen Provinz, die immer wieder als europäischste Stadt Nordamerikas bezeichnet wird, ist der Guide wohl eher ein „Charmeur à l‘ancienne“. „Mein Vater ist sehr französisch, sehr gälisch, sehr keltisch, er kommt aus dem Nordwesten Frankreichs, während meine Mutter deutsch-italienischer Herkunft ist“, sagt Lapointe, „eine sehr europäische Familie, wie die der meisten Québecois“.

„Eigentlich sind die Kanadier viel in den USA unterwegs, aber gerade entdeckten sie lieber ihr eigenes Land“, sagt Lapointe. Auch mehr Europäer seien derzeit in Québec unterwegs als in den Vorjahren. Lapointes Beobachtungen entspricht aktuellen kanadischen Medienberichten, denen zufolge der Inlandstourismus in Kanada in diesem Jahr deutlich zugenommen hat. Auffällig ist auch, dass weit weniger Kanadier in die USA reisten als im Vorjahr – wohl vor allem aufgrund der politischen Spannungen zwischen den beiden Ländern.

Gleichzeitig gab es zwischen Kanada und Europa so viele Flugverbindungen wie noch nie. Allein Air Canada nahm in diesem August 112 mehr Flüge nach Europa auf als im Vorjahr. In den Sommermonaten Juli und August besuchten etwa neun Prozent mehr Europäer Kanada im Vergleich zu 2024. Erhebungen zu den Gründen sind nicht bekannt, aber Touristiker nehmen an, dass viele Reisende sich mit Kanada als Urlaubsalternative zum Trump-Amerika das aus ihrer Sicht bessere Nordamerika aussuchen.

An der Küste des mächtigen Sankt-Lorenz-Stroms, der hinter den Türmen des Château Frontenac zu einem zunehmend weiten Meeresarm anwächst, werden für Kanada-Urlauber die europäischen Wurzeln Québecs besonders augenscheinlich sichtbar. Die Dorfkirchen mit ihren spitzen Türmen scheinen aus der Normandie oder Bretagne gestohlen. In den Bäckereien kann man den Alten mit Baguette unterm Arm beim Schwatz im sehr urtümlich anmutenden Französisch über Trump und die Welt zuhören. Wer in den Cafés Québecs zum Croissant oder hier „Chocolatine“ genannten Pain au chocolat gerne einen „Americano“ hätte, sollte sich jedoch in Acht nehme. Die Kanadier servieren seit Neustem vielerorts lieber einen „Canadiano“.

Im September und Oktober färben sich die Wälder um Charlevoix und La Malbaie in ein blendendes Herbstgemälde in Gelbgrün, Goldorange und Hagebuttenrot der Ahornbäume. Die Regionen rund um den Sankt-Lorenz-Strom gelten als die wichtigsten Exportgebiete von Ahornsirup weltweit. Mehr als 90 Prozent der kanadischen Produktion stammt aus Québec. Von dem süßen Saft des Zucker-Ahorns wird ein Großteil in die USA und nach Europa geliefert.

An der Felsküste hinter Tadoussac halten im Herbst noch immer Touristen nach den letzten Walen Ausschau, die den Strom gen Norden verlassen. Viele Urlauber sind in diesem Jahr aus Québec selbst oder der Nachbarprovinz Ontario gekommen. Auch viele Franzosen erkunden die Provinz. US-amerikanische Touristen findet man hier hingegen weit weniger als in anderen Landesteilen Kanadas.

„Die US-Amerikaner, die als Jagdtouristen nach Québec kommen, sind eher auf die großen Trophäen aus, die sie ganz im Norden finden“, sagt Jeannine Villeneuve von der indigenen Gemeinschaft der Innu in Essipit. Von der Siedlung oberhalb einer Steilküste blickt sie vorbei an einem traditionellen Tipi auf das träge Wasser des Sankt Lorenz. „Die Regionen an der Grenze zu den USA spüren die Auswirkungen auf den Tourismus am ehesten, hier aber sind wir nicht wirklich davon betroffen“, sagt Villeneuve, „traditionell kommen Besucher vor allem aus Québec selbst und auch aus Europa“.

Die Innu sind eines von insgesamt elf indigenen Völkern Québecs. Sie gehören zu den kanadischen Ureinwohnern, deren traditionelles Stammland im Norden Québecs einst teils an das der Inuit grenzte, und doch ist ihre Kultur eine gänzlich andere. „Traditionell waren die Innu Karibujäger“, erklärt Villeneuve, „heute gehört unsere Gemeinschaft aber zu den angepasstesten unter den First Nations Kanadas.“ Die traditionelle Sprache der Innu wird hier schon seit Längerem nicht mehr gesprochen. Sie ist nur noch in einigen entlegenen Gemeinden lebendig. In Essipit lebt man heute von Fischerei, moderner Holzwirtschaft, Jagdpachten und dem Tourismus. „Wir freuen uns, dass die indigenen Kulturen immer mehr Touristen inte­ressiert“, sagt Villeneuve, „gerade bei den Europäern spüren wir das.“

Während der Norden Québecs in diesem Jahr vor allem einheimische Touristen empfing, scheint ganz im Süden der Provinz in ihrer größten Stadt Montréal ein Andrang internationaler Besucher wie eh und je zu sein. Mal wirkt die vielgesichtige Millionen­metropole wie New York, mal wie Shanghai und mal wie Paris. Auf von Hochhäusern gesäumte Hauptstraßen folgen Gassen mit asiatischen Restaurants, Ramen- und Sushi-Bars. In Vieux Montréal bummeln Europäer, Asiaten und Lateinamerikaner vorbei an gemütlichen Cafés, pompösen Stadtpalästen und Plätzen mit Marmorstatuen, wie man sie eher an der Seine verorten würde.

„Montréal ist gleichzeitig sehr französisch und sehr amerikanisch“, sagt Stéphanie Goulet. Von ihrem Cafétisch im Restaurant Rosélys blickt die Künstlerin durch die hohen Fenster auf die Kathedrale Marie-Reine-du-Monde, die dem Petersdom in Rom nachempfunden wurde. Hinter ihr hängt eines ihrer Bilder, das die Basilika im Stil der Neo­renaissance neben den modernen Hochhäusern um den Boulevard René-Lévesque fast als Miniatur erscheinen lässt. „Mich hat diese Mischung aus klassisch-europäischer und moderner nordamerikanischer Architektur in Montréal schon immer fasziniert” sagt die 38-Jährige. Goulet widmet ihre großformatigen Gemälde ganz den Stadtlandschaften ihrer Metropole. „Dabei geht es mir nie um das Abbild. Ich mag die scheinbar unwesentlichen Details, ich suche das Unperfekte, die Schieflage.“ Dafür stehe für sie auch die kulturelle Mischung, die in Montréal längst nicht nur in seiner Architektur sichtbar werde.

Auch Goulet erzählt, dass die USA für viele in Québec in diesem Jahr nicht als Reiseziel in Frage komme. „Die Leute verreisen entweder ganz weit weg, nach Europa, oder aber sie bleiben hier und erkunden ihre Provinz. In Québec gibt es ja so viele wunderbare Ecken.“

Goulet hat wie viele Künstler Trumps Attacken gegen Kanada im Zollstreit aufmerksam verfolgt. „Wir spüren das natürlich. Wie wohl überall auf der Welt haben viele auch Angst davor, von irgendwelchen politischen Stimmungen abhängig zu sein“, sagt sie. Auch machten wirtschaftliche Sorgen es gerade vielen Künstlern nicht einfach. „Aber Montréal wird sich seine Lebenslust davon nicht nehmen lassen. Ich sehe die Stadt wie einen He­ranwachsenden voller Energie.“ So wie es nichts bringe, einem Teenager etwas vorzuschreiben, ließen sich auch Kanadier von niemandem maßregeln. Die Montréalais seien wie Champagner, den nichts in seiner Flasche hält. „Wir sind eine überschäumende Stadt.“