
Der Oberste Gerichtshof Brasiliens hat den ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro am Donnerstag zu 27 Jahren und drei Monaten Gefängnis verurteilt. Vier von fünf Richtern der zuständigen ersten Gerichtskammer befanden den 70 Jahre alten Bolsonaro für schuldig, einen Staatsstreich geplant zu haben, um nach seiner Wahlniederlage 2022 im Amt zu bleiben. Damit wird Bolsonaro zum ersten ehemaligen Präsidenten in der Geschichte des Landes, der wegen eines Angriffs auf die Demokratie verurteilt wird.
Die entscheidende Stimme des Verfahrens, bei dem in Brasilien die Richter üblicherweise nacheinander entscheiden, kam am späten Donnerstagnachmittag von Richterin Cármen Lúcia Rocha, die mit Blick auf die zahlreichen Putsche und Putschversuche in der brasilianischen Geschichte von einem „Treffen Brasiliens mit seiner Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ sprach. Es gebe „Beweise im Überfluss“, dass Bolsonaro mit dem Ziel gehandelt habe, „Demokratie und Institutionen zu untergraben“, sagte die Richterin.
Der Anklage lag ein mehr als 800 Seiten umfassender Untersuchungsbericht der brasilianischen Bundespolizei mit unzähligen Dokumenten, Zeugenaussagen und auf Mobiltelefonen sichergestellten Nachrichten zugrunde. Zentrales Beweisstück war der sichergestellte Entwurf eines Dekrets, das vorsah, den Ausnahmezustand über das Oberste Wahlgericht zu verhängen und dessen Mitglieder festzunehmen, um anschließend das Wahlergebnis zu überprüfen und die Wahl zu annullieren. Bolsonaro konsultierte die Armeespitze, doch nur der Kommandeur der Marine war bereit, sich auf das Abenteuer eines Staatsstreichs einzulassen. Daran scheiterte der Plan.
Anklage: Versuchter Staatsstreich
Vier der fünf Richter verurteilten Bolsonaro in allen fünf Anklagepunkten: Versuch der gewaltsamen Abschaffung des demokratischen Rechtsstaats, versuchter Staatsstreich, kriminelle Vereinigung sowie Zerstörung von Staatseigentum und geschützten Kulturgütern. Neben Bolsonaro verurteilte das Gericht sieben weitere Angeklagte zu ähnlich hohen Haftstrafen, darunter mehrere ehemalige Minister und Generäle sowie den ehemaligen Adjutanten Bolsonaros, der als Kronzeuge mit der Staatsanwaltschaft kooperierte und eine entsprechend milde Strafe erhielt.
Der Prozess und das nun gefällte Urteil polarisieren Brasilien. Das ist neben der spaltenden Persönlichkeit Bolsonaros vor allem auf die angeschlagene Glaubwürdigkeit des Obersten Gerichtshofs zurückzuführen, das seit geraumer Zeit unter Beschuss der politischen Rechten steht. Sieben der elf Richter des gesamten Richtergremiums wurden unter den linken Regierungen von Luiz Inácio Lula da Silva und Dilma Rousseff nominiert. Nicht zu ihnen zählt Richter Alexandre de Moraes, der den Prozess leitete. Moraes führte in den vergangenen Jahren einen harten Kampf gegen Desinformation in den sozialen Medien, der sich fast ausschließlich gegen Persönlichkeiten aus dem politischen Umfeld Bolsonaros richtete, was den Richter zum Erzfeind der „Bolsonaristen“ gemacht hat.
Trumps Einmischung erhöhte die Spannungen
Moraes und weitere Richter sind in den vergangenen Monaten wegen des Prozesses ins Visier des amerikanischen Präsidenten Donald Trump geraten, der zu Bolsonaro und dessen Söhnen eine freundschaftliche Beziehung unterhält. In einem Versuch, den von ihm als „Hexenjagd“ beschriebenen Prozess gegen Bolsonaro zu stoppen, verhängte Trump Strafzölle von 50 Prozent gegen brasilianische Importe sowie Sanktionen gegen Richter. Moraes wurde als erster Vertreter eines demokratischen Landes mit dem sogenannten Global Magnitsky Act sanktioniert, den Washington für gewöhnlich nur gegen Diktatoren und Terroristen anwendet.
Die Richter ließen sich davon nicht beeindrucken. Mit dem Urteil könnte Trumps Vergeltung noch härter ausfallen. Die Verurteilung von Bolsonaro sei „eine schreckliche Sache“ und „sehr schlecht für Brasilien“, sagte der US-Präsident am Donnerstag. Auch Außenminister Marco Rubio sprach von einem „ungerechten Urteil“ und kündigte weitere „angemessene“ Reaktionen Washingtons an. Bolsonaros Sohn, der Abgeordnete Eduardo Bolsonaro, der seit einigen Monaten in den Vereinigten Staaten für seinen Vater lobbyiert, sagte, dass das Urteil weitere Sanktionen zur Folge haben dürfte. Das brasilianische Außenministerium antwortete auf Rubios Äußerung, dass die Drohungen und Angriffe auf die brasilianische Justiz, die Fakten und Beweise ignorierten, die Demokratie des Landes nicht einschüchterten.
Anfechtung des Urteils kaum möglich
Da das Urteil von der höchsten gerichtlichen Instanz gefällt wurde, gibt es nur sehr wenige Möglichkeiten für Rekurse, die bestenfalls zu einer Beurteilung durch das gesamte Richtergremium führen und eine Verzögerung bewirken. Bolsonaros Verteidigung überlegt sich überdies, an internationale Instanzen zu gelangen. Für einen kleinen Hoffnungsschimmer sorgte diesbezüglich der Richter Luiz Fux, der sich als Einziger der fünf urteilenden Richter für einen Freispruch Bolsonaros und der meisten Mitangeklagten aussprach und unter anderem die Kompetenz des Gerichts in diesem Prozess infrage stellte, der seiner Meinung nach von einer tieferen Instanz hätte geführt werden müssen. Er beharrte darauf, dass nicht von einem Staatsstreich gesprochen werden könne, wenn dieser nicht zur Ausführung komme. Damit widersprach er der Staatsanwaltschaft, die die nachgewiesenen Aktionen bereits als Teil der Ausführung verstand. Zudem schloss Fux sich dem Argument der Verteidigung an, die Vorbereitungszeit sei unzureichend gewesen.
Das Votum von Fux am Mittwoch hatte die Stimmung kurzzeitig etwas aufgehellt, während die restlichen Richter über das Ausmaß der Diskordanz ihres Kollegen überrascht waren. Die Tatsache, dass das Urteil nicht einstimmig ausgefallen ist, öffnet zumindest eine Bresche, um es anzufechten – insbesondere auf rhetorischer und politischer Ebene. Das Bolsonaro-Lager scheint sich ohnehin eher auf einen politischen als einen juristischen Kampf einzustellen. In einer Mitteilung bezeichnete der Oppositionsführer im Abgeordnetenhaus, Luciano Zucco, den Prozess und das Urteil als eine Farce und eine Schande für die brasilianische Justiz. Er forderte überdies eine „uneingeschränkte“ Amnestie für alle Verhafteten des 8. Januar 2023, als Hunderte von radikalen Bolsonaro-Anhängern das Regierungsviertel in Brasilia stürmten und den Kongress, den Präsidentenpalast sowie den Obersten Gerichtshof verwüsteten. Bereits liegt dem Kongress der Entwurf eines Amnestiegesetzes vor, der jedoch noch nicht auf der Traktandenliste steht und politisch für viel Polemik sorgt. Vordergründig geht es beim Gesetz um die verurteilten Vandalen des 8. Januar. Das eigentliche Ziel ist jedoch eine Amnestie für Bolsonaro und andere Verurteilte.
Das Urteil wirft auch einen langen Schatten auf die Präsidentschaftswahlen in gut einem Jahr. Bolsonaro war schon vor dem Urteil vom Wahlgericht bis 2030 von Wahlen ausgeschlossen worden. Die Verurteilung und langjährige Haftstrafe machen seine Situation noch auswegloser. Weiterhin ist er jedoch die wichtigste Führungsfigur der brasilianischen Rechten und will er „im Spiel bleiben“, wie er selbst sagt. Wer Bolsonaros Segen hat, hat viele Stimmen sicher. Und dieser Segen führt nun voraussichtlich über ein Amnestieversprechen – was auch politische Risiken in Form einer starken Ablehnung durch gemäßigtere Wähler birgt.