

Mehr als 1800 Tage sitzt der wichtigste politische Gefangene von Hongkong schon im Gefängnis, die meiste Zeit davon in Einzelhaft. Als ihn die Vorsitzende Richterin am Montag um kurz nach zehn schließlich in allen drei Anklagepunkten schuldig spricht, nimmt Jimmy Lai das Urteil äußerlich regungslos auf. Mit verschränkten Armen sitzt der einstige Milliardär und Medienunternehmer auf seiner Sitzbank hinter Panzerglas, mit Kopfhörern über den Ohren, um besser hören zu können. Der 78 Jahre alte Mann ist umgeben von sieben Sicherheitskräften.
So klar, wie Richterin Esther Toh im Sinne der Anklage urteilt, wird Jimmy Lai wohl kein Leben mehr in Freiheit führen dürfen.
Und so deutlich, wie die Richterin die USA als Partner Lais benennt, ist auch die politische Dimension des Verfahrens. Das Urteil dürfte zu neuen Verstimmungen zwischen Peking und Washington führen. Der amerikanische Präsident Donald Trump hatte angekündigt, er werde Lai freibekommen.
Das Amtsgericht von West-Kowloon verurteilt den Hauptangeklagten in zwei Anklagepunkten wegen „Verschwörung zur Zusammenarbeit mit ausländischen Kräften“ – ein Verbrechen, das nach dem 2020 von der Volksrepublik China über Hongkong erlassenen Nationalen Sicherheitsgesetz mit lebenslanger Haft bestraft wird. Richterin Toh führt aus, wie Lai und seine Assistenten 2019 in mehreren Treffen mit der damaligen ersten von Trump geführten amerikanischen Regierung die USA dazu bringen wollten, Sanktionen oder eine Blockade gegen China zu erwirken.
855 Seiten soll das Urteil haben
Sie zitiert aus persönlichen What’s-App-Nachrichten, wie Jimmy Lai Treffen vorbereitet habe: mit dem damaligen Vizepräsidenten Mike Pence, mit dem früheren Außenminister Mike Pompeo und dem ehemaligen Nationalen Sicherheitsberater John Bolton. Lai habe den USA eine „ständige Einladung“ ausgesprochen, beim Sturz der chinesischen Regierung mitzuwirken, sagt Toh, unter dem Vorwand, den Hongkongern zu helfen. Das sei so, fügt die Richterin hinzu, als würde ein Amerikaner mit Russland konspirieren, um den Untergang der amerikanischen Regierung herbeizuführen „unter dem Deckmantel, dem Staat Kalifornien zu helfen“.
Prozessbeobachter werten diesen juristisch sonderbaren Vergleich später als klaren Hinweis auf die politische Absicht des Verfahrens.
Insgesamt 855 Seiten habe das Urteil, führt Richterin Toh fort. Sie habe indes nur die Absicht, daraus die letzten sechs vorzulesen, verkündet sie in britischem Englisch.
Sie und die beiden anderen Richter tragen eine weiße Perücke und eine rote Robe mit schwarzer Schärpe. Diese Tradition ist den Gepflogenheiten der früheren Kolonialverwaltung Großbritanniens entlehnt, das die Herrschaft über Hongkong 1997 an die Volksrepublik China übertrug. Mit der Vereinbarung, bis ins Jahr 2047 dem Prinzip „ein Land, zwei Systeme“ zu folgen und Hongkong „ein hohes Maß an Autonomie“ zu gewähren.
In weniger politischen Bereichen ist Peking weiter darauf bedacht, Eigenständigkeit in Hongkong und dessen Status als Finanzplatz zu wahren. Das von den Briten übernommene „common law“ gilt im Zivilrecht und Wirtschaftsfragen meist fort, was internationale Geschäftsleute weiterhin anzieht. Nicht jedoch, wenn es um Fragen der „Nationalen Sicherheit“ geht.
Der Prozess gegen Jimmy Lai kennt keine Jury. Und anders als bei Zivilprozessen wurden die Vorsitzende Richterin Esther Toh und die beiden anderen Richter handverlesen vom Peking-treuen Hongkonger Regierungschef John Lee, der am Urteilstag zu Konsultationen in die chinesische Hauptstadt abflog.
Intensiv geht die Urteilsbegründung auf die Kommunikation Jimmy Lais mit der Demokratiebewegung und mit Amerikas Regierung im Jahr 2019 ein. Zu einer Zeit also, in der das am 30. Juni 2020 von China erlassene Nationale Sicherheitsgesetz noch gar nicht eingeführt war. Das britische „Common Law“ kennt keine rückwirkende Geltung später erlassener Gesetze. Nach dem Nationalen Sicherheitsgesetz aber zählt schon die „Absicht“ als Straftatbestand, wie das Gericht belegen will.
Lai hatte sich hochgearbeitet
„Die einzige vernünftige Schlussfolgerung, die wir ziehen können, ist, dass die einzige Absicht des ersten Angeklagten – ob vor oder nach dem Nationalen Sicherheitsgesetz – darin bestand, den Sturz der Kommunistischen Partei Chinas herbeizuführen“, verliest Richterin Toh mit verschränkten Armen. Trotz des Inkrafttretens des Nationalen Sicherheitsgesetzes sei Lai weiter entschlossen gewesen, „dies fortzusetzen, wenn auch auf eine weniger explizite Weise“, schließt Toh.
Lai hätte nach den Demokratieprotesten 2019 fliehen können, er besitzt auch den britischen Pass. Doch Lai beschloss, in Hongkong zu bleiben. Kurz vor seiner Verhaftung sagte Lais, er bereite sich auf seine Zeit im Gefängnis vor. Er könne seine Leute nicht im Stich lassen, sagte Lai in einem seiner letzten prominenten Treffen mit dem Israeli Natan Sharansky, der als antikommunistischer Dissident einst im sowjetischen Gulag gelebt hatte. So wie Sharansky damals sein jüdischer Glaube Kraft gab, so ist der im Jahr der Übergabe von Hongkong zum Katholizismus übergetretene Jimmy Lai ein tiefgläubiger Christ, der nach Angaben seiner Angehörigen in Haft täglich betet. Vergangene Woche sagte Lais Tochter Claire, der Gesundheitszustand ihres an Diabetes leidenden Vaters sinke rapide, die Familie habe immer wieder versucht, ihm einen Rosenkranz ins Gefängnis zu senden. Doch „jeder Versuch scheiterte“.
Mit Härte hat Lai Erfahrung. Als bitterarmer Jugendlicher floh er in den sechziger Jahren aus dem von Hunger geprägten maoistischen China ins benachbarte, damals britische Hongkong. In den Fabriken der Metropole arbeitete er sich hoch und begründete später selbst ein Bekleidungs-Imperium: Die Kette Giordano prägt bis heute viele Einkaufszonen in Asien. Die blutige Niederschlagung der Studentenbewegung auf dem Pekinger Tiananmen-Platz 1989 gab dem Multimillionär dann einen neuen Drang, sagte Lai einmal. Sich selbst bezeichnete er als „Unruhestifter“.
1990 gründete Lai ein Medienunternehmen und seit 1995 brachte er in Hongkong die Zeitung „Apple Daily“ heraus. Das Blatt wurde mit einer Mischung aus Boulevardjournalismus, investigativen Recherchen und freiheitlicher politischer Berichterstattung eine der auflagenstärksten Zeitungen der Region. Schon 2014 unterstützte „Apple Daily“ die damalige Regenschirm-Bewegung, deren Unterstützer sich damals gegen die zunehmende festlandchinesische Kontrolle gewandt und freie Wahlen etwa des Regierungschefs gefordert hatten. Die demokratische Protestbewegung von 2019 unterstützte das Blatt ebenso.
Hoffnungen gibt es kaum noch
Wenige Wochen nach der Verabschiedung des Nationalen Sicherheitsgesetzes stürmte die Polizei im August 2020 das Redaktionsgebäude und führte Lai in Handschellen ab. Tage zuvor hatten die USA wegen „Unterdrückung der Freiheit“ Sanktionen gegen elf Spitzenbeamte aus Hongkong und Chinas verhängt. Jimmy Lais Zeitung musste schließen.
So spricht ihn Richterin Toh am Montag auch im dritten Anklagepunkt schuldig: wegen „Verschwörung zur Veröffentlichung aufrührerischen Materials in Apple Daily“. Ausführlich zitiert sie auch einen Gastbeitrag, den Lai im Mai 2019 in der „New York Times“ geschrieben hat. Darin formuliert Lai, Pekings „repressive Maßnahmen in Hongkong stehen im Zusammenhang mit diesen anderen Aggressionen“: nämlich „mit Taiwan, im Südchinesischen Meer, an der indischen Grenze und weltweit“.
Hongkongs Regierungschef John Lee lässt nach den Schuldsprüchen verkünden, Jimmy Lai habe „Apple Daily“ genutzt, um soziale Konflikte und „Hass gegen China und Hongkong“ zu schüren. „Sein Handeln war beschämend und seine Absichten waren bösartig.“ Für Peking ist die Hongkonger Demokratiebewegung ein Teil der weltweiten „Farbrevolutionen“ mit dem Ziel, Regierungen zu stürzen.
Das Strafmaß wird Jimmy Lai „so bald wie möglich“ erfahren, heißt es im Gericht. Eine Anhörung zur Strafmilderung ist für den zwölften Januar angesetzt.
Lai hatte auf nicht schuldig plädiert. Hoffnung gibt es für ihn kaum. Die bisher rund achtzig nach dem Nationalen Sicherheitsgesetz geführten Strafverfahren endeten in Hongkong zu fast einhundert Prozent mit Verurteilungen.
Einigen gilt der Schuldspruch gegen Lai wie ein letzter Sargnagel der Hongkonger Demokratiebewegung. Passend dazu gab am Sonntag nur einen Tag zuvor die Demokratische Partei Hongkongs, die zuletzt größte prodemokratische Partei der Region, ihre Selbstauflösung bekannt.
