Unternehmer Michael Otto plädiert für spätere Rente und warnt vor Alice Weidel als Kanzlerin


Herr Otto, Sie sind immer noch der Kopf der Otto-Gruppe. Mit 82 Jahren sind Sie noch Vorsitzender des Stiftungs- und Gesellschafterrats. Wie viele Stunden arbeiten Sie in der Woche?

Ich bin noch fast täglich im Büro. Hier führe ich vor allem persönliche Gespräche, da gibt es eher eine lebendige Diskussion als über Videokonferenzen, an denen ich auch teilnehme.

Das ist ein ziemliches Pensum. Denken Sie, andere Menschen in Ihrem Alter könnten das auch schaffen?

Die Frage ist, ob man Lust hat. Mir bringt nicht nur das Unternehmertum, sondern auch die Arbeit mit meinen Stiftungen einfach Spaß. Natürlich ist auch immer mal wieder Ärger dabei, aber insgesamt macht es mir Freude.

Sollten die Menschen grundsätzlich später in Rente gehen?

Ja. Ich stelle bei uns fest, dass manche interessiert sind, über das Rentenalter hinaus weiterzuarbeiten und in manchen Bereichen ermöglichen wir das auch. Klar, wenn jemand schwer körperlich gearbeitet hat bis ins Alter von 60 oder 65 Jahren, wird er das nicht länger tun wollen oder können, aber womöglich könnte er mit seiner Erfahrung im Büro tätig sein, etwa für die Einsatzplanung. Es hängt viel vom Beruf und den individuellen Fähigkeiten ab.

Also wären Sie nicht dafür, das Renteneintrittsalter grundsätzlich zu erhöhen?

Doch. Anders ist das umlagefinanzierte System doch gar nicht zu finanzieren. Mit der steigenden Lebenserwartung muss sich schon im Interesse der jungen Generation etwas ändern. Man könnte ja zum Beispiel sagen: Für jedes Jahr längere Lebenserwartung sollte sich die durchschnittliche Lebensarbeitszeit um ein halbes Jahr verlängern. Wobei man immer noch Ausnahmeregelungen festlegen könnte.

Was ist Ihre Erwartung: Wie wird die Rentendiskussion sich hierzulande weiterentwickeln?

Da gibt es ja sehr unterschiedliche Auffassungen. Aber ich könnte mir vorstellen, dass man zumindest die Rentenerhöhung wieder an die Inflationsrate anpasst. Man könnte beginnen, eine kapitalfinanzierte Rente aufzubauen. Außerdem müsste es Anreize für private Vorsorge geben. Die Bürger verlassen sich heutzutage auf den Staat und fragen, warum sie dies nicht kriegen und warum das nicht unterstützt wird. Dieses Verhalten ist von allen Regierungen über Jahre unterstützt worden. Wir müssen wieder dazu kommen, dass jeder erst einmal für sich selbst verantwortlich ist.

Das hört sich so an, als hätten Sie den Eindruck, dass die SPD gemessen an ihrem Wahlergebnis etwas zu viel Einfluss hat in der Regierung?

Ja, die SPD hat erstaunlich viel durchsetzen können. Man geht sicher auch um des Koalitionsfriedens willen stark auf die SPD zu. Im Grunde wäre es sinnvoll gewesen, die ganze Renten-Diskussion um ein halbes Jahr zu verschieben, um Reformvorschläge abzuwarten. Leider ist jedoch schon einiges vorab festgelegt worden.

Stichwort Koalitionsfrieden. Wenn jetzt die Koalition zerbräche, müsste man damit rechnen, dass die AfD noch mehr Stimmen bekommt und den Kanzler stellen will, oder die Kanzlerin. Alice Weidel als Kanzlerin, was löst diese Vorstellung in Ihnen aus?

Also davon gehe ich erstmal nicht aus. Die Vorstellung lässt mich schaudern. Es ist sehr wichtig, dass die schwarz-rote Koalition jetzt wirklich handelt und sich vor allem nicht öffentlich streitet. Handeln, umsetzen, darauf kommt es an.

Ja, ich bin Optimist. Es ist ja schon einiges unter der neuen Regierung passiert, was vielleicht etwas untergegangen ist. Erhöhte Abschreibungsmöglichkeiten für Investitionen, das Absenken des Industriestrompreises, das sind ganz gute Ansätze. Aber es reicht nicht.

Der Verband der Familienunternehmer hat Schlagzeilen gemacht, weil man sich gesprächsbereit zeigte gegenüber der AfD.

Das war ja eine Einladung dieses Verbandes, dem wir nicht angehören. Ich würde sicher keine Einladung aussprechen für ein Gespräch mit Vertretern der AfD. Falls ich aber bei einer Diskussionsrunde wäre, an der jemand von der AfD oder auch der Linke teilnähme, würde ich das Gespräch nicht verweigern.

Sehen Sie nicht die Gefahr, dass man damit die wirtschaftsfeindlichen Ansichten der AfD salonfähig macht und damit letztlich auch ihre extremen Ansichten auf anderen Feldern?

In dem Fall muss man sie in der Diskussion stellen. Da kann man auch klar machen, was für ein Unfug teilweise geredet wird und was für falsche Behauptungen aufgestellt werden. Aber eine Einladung hätte ich nicht ausgesprochen und das ist als Fehler ja auch erkannt worden.

Sie selbst haben sich ja politisch früh als „Öko“ positioniert.

Richtig. Mein Aha-Erlebnis war Anfang der 1970er Jahre der Bericht des Club of Rome: Grenzen des Wachstums. Mir wurde klar, dass angesichts der Umweltbedrohung jeder handeln sollte, jeder Bürger, jeder Unternehmer. Ich begann mit den ersten Projekten und habe 1986 Umweltschutz zum weiteren Unternehmensziel erklärt. Wir haben in der Bekleidungsproduktion die Chlorbleiche durch Ozonbleiche ersetzt, schwermetallhaltige Farben durch biologisch abbaubare Farben, die Formaldehydausrüstung durch natürliche Schrumpfung ersetzt, schrittweise durch die ganze Lieferkette. Heute haben wir uns „Science-based Targets“ verpflichtet, und zwar so, dass man nicht nur die Lieferanten, sondern auch die Konsumenten in das Ziel der CO2-Neutralität einbezieht. Das heißt, dass wir beispielsweise zu den energieeffizienten Geräten auch grünen Strom anbieten müssen. Das alles geht nicht von heute auf morgen. Wobei aber Nachhaltigkeit längst Teil der Unternehmenskultur ist.

Trotz allem kann man auch bei Otto Produkte kaufen, die in punkto Nachhaltigkeit ein schlechtes Gewissen machen. Ich denke etwa an elektrische Kinderautos oder Spülmaschinen mit Effizienzklasse E oder …

Das ist zu meinem Bedauern in der Tat der Fall, aber daran wird weiter gearbeitet. Vielen Dank für den Hinweis. Eins ist jedenfalls klar: Wir bieten keinen Schund an. Ein billiges T-Shirt, gar mit Schadstoffen, das jemand nach drei, viermal Anziehen wegwirft, gibt es nicht bei Otto. Wir verlangen von den Anbietern auf unserer Plattform Otto.de einen Mindest-Qualitätsstandard, in allen Bereichen. Da achten wir sehr darauf.

Ist Ihr Profil scharf genug, um Otto in die Zukunft zu tragen?

Das Vertrauen auf Qualität, auf Service, auf Zuverlässigkeit, auf Kundenfreundlichkeit – das sind für uns ganz wichtige Faktoren. Das ist etwas, das wir von Anfang an gepflegt haben. Es gibt genügend Kunden, die das wichtig finden. Fast 13 Millionen aktive Kunden allein bei Otto.de. Übrigens kommt über die Hälfte aller Kunden direkt auf unsere Plattform, nicht über Google oder woher auch immer. Natürlich müssen wir dabei ein gutes Preis-Qualitäts-Verhältnis haben, ganz klar.

Sie haben sich 2007 vom Vorstandsvorsitz zurückgezogen. Das Geschäftsjahr damals endete mit einem Rekordgewinn vor Steuern von 500 Millionen bei einem Umsatz von 15 Milliarden Euro. Fast zwei Jahrzehnte später ist Otto nicht größer, das Ergebnis viel schlechter.

Die Zeiten haben sich geändert, das Verbraucherverhalten, die Wettbewerbssituation. Wir haben aber auch einige Unternehmen veräußert, zum Beispiel das Großhandelsgeschäft. Nach der Coronazeit hatten wir schwierige Jahre, aber wir sind wieder auf Gewinnkurs. Die Otto Group ist ein gesundes Unternehmen mit einem soliden Fundament und mit einer hervorragenden Besetzung angeführt durch Petra Scharner-Wolff als Vorstandsvorsitzende. Das freut mich besonders, weil ich mich ja Ende Februar 2026 ganz zurückziehe, auch aus dem Vorsitz des Stiftungsrats der Michael-Otto-Stiftung und dem Gesellschafterrat. In diesen Positionen folgt mir mein Sohn Benjamin nach, der große Stärken in der Strategie hat und viel Erfahrung mitbringt.

Gibt es einen Ratschlag, den Sie Ihrem Sohn mitgeben würden?

Nein. Er war an den strategischen Weichenstellungen während der vergangenen Jahre schon voll beteiligt. Natürlich wird er seine eigenen Akzente setzen.

In Deutschland ist Otto längst und sehr deutlich hinter Amazon zurückgefallen, und dann sind auch noch Plattformen wie Temu und Shein aus China dazu gekommen.

Die Konkurrenz von Temu und Shein ist besonders aggressiv, weil sie mit vielen, teilweise überzogenen Spielmöglichkeiten die Kunden auf Ihrer Plattform halten und sie zum Kauf animieren. Wenn dann noch Produkte mit Schadstoffen angeboten werden, die Grenzwerte der EU um ein Vielfaches überschreiten, dann ist das nicht akzeptabel. Die Produkte können oft nicht mal zurückgeschickt werden, also bleibt eine Menge Sondermüll zurück. Tausende Einzelhändler gehen pleite durch diese unfairen Konkurrenten. Da muss endlich gehandelt werden. Frankreich wehrt sich mit Paketgebühren für Kleinsendungen von außerhalb der EU, das finde ich absolut richtig.

Verglichen mit den chinesischen Plattformen scheint Amazon ein einfacher Konkurrent zu sein.

Amazon legt sicherlich nicht so viel Wert auf Umwelt und Nachhaltigkeit wie wir. Aber Amazon ist ein fairer Wettbewerber.

Im Jahr 2000 hat Jeff Bezos Sie gefragt, ob Sie 100 Millionen Dollar in sein Amazon investieren wollen…

Hätten wir uns beteiligt, wäre der Wert heute natürlich sehr viel größer. Aber sein Geschäftskonzept war es, CDs, DVDs und Bücher zu verkaufen, und zwar ohne Zustellgebühr. Damit wäre man damals wie heute nie in schwarze Zahlen gekommen. Man konnte damals nicht absehen, dass Jeff Bezos sein Geschäftsmodell noch mehrmals ändern würde.

Glauben Sie, er hat das selbst damals schon gewusst? Hatte er eine Art Masterplan?

Ich vermute, dass sich das so ergeben hat. Mit der Kundenfrequenz hat er die Sortimente erweitert und später eine Plattform für Marken und Händler geschaffen, die übrigens auch nur minimal Gewinn gebracht hat. Hauptsächlich verdient er heute mit dem Cloud-Geschäft und Retail-Media. Jeff Bezos ist sicher ganz genial, aber er hat auch unwahrscheinliches Glück gehabt, immer wieder Finanziers zu finden, die die Milliardenverluste erst einmal finanziert haben.

Hätte die Otto Group das Geld gehabt, um solch große Investments einzugehen?

Das Geld wäre da gewesen. Wir haben ja auch wiederholt in größerem Umfang investiert. Ein erfolgreicher Zukauf war Crate and Barrel, ein Einzelhändler für Möbel und Wohnaccessoires in Nordamerika. Und wir haben ja auch selbst Unternehmen aufgebaut, Bonprix zum Beispiel oder About You.

Sie hatten auch schon immer ein Faible für technische Innovationen.

Ich war besonders in den 80er Jahren oft in den USA, um zu sehen, was sich dort entwickelt. Wir haben zusammen mit Time Warner sogar interaktives Fernsehen getestet, Einkaufen auf Knopfdruck. Keine Frage, dass wir sofort reagierten, als in den 90er Jahren dann das Internet für Zivilpersonen freigegeben wurde – auch wenn anfangs kaum jemand einen Internetanschluss hatte. Es war klar, dass es viele, viele Jahre dauern würde, um den Kataloghandel auf Onlinehandel umzustellen, aber wir haben es geschafft – im Gegensatz zu den vielen Konkurrenten, die abgewartet haben. Heute setzen wir in vielen Bereichen Künstliche Intelligenz ein. Die Generative KI kann 1500 Produktbeschreibungen in zehn Minuten erstellen, soviel Zeit braucht ein Mensch für einen einzigen Text dieser Art. Auch im Modedesign setzen wir KI ein, dann werden die Schnitte dem Produzenten gleich mitgeliefert mit dem Entwurf. Und wenn Kunden Fragen haben, stehen heute Sprachassistenten zur Verfügung.

Schon ganz früh haben Sie auch virtuelle Ankleidekabinen getestet, im Jahr 2001. Umso unerklärlicher, dass es heute immer noch nicht möglich ist, mit einer Art digitalem Zwilling im Netz einzukaufen. Dann wäre von vornherein klar, welche Größen und Schnitte passen.

Versuche, einen digitalen Avatar zu entwickeln, gab es in den letzten Jahrzehnten sehr viele. Bisher haben sie sich nicht durchgesetzt. Aber vielleicht gelingt mit KI der Durchbruch. Was die unterschiedlichen Größen angeht: Die fallen gleich groß aus, wenn Sie immer nur Mode von unseren Eigenmarken bestellen. Aber mit der Vielzahl der Anbieter und Marken funktioniert das leider nicht. Auch bei Schuhen ist das ein Problem. Immerhin weisen wir bei der Bestellung darauf hin, falls ein Schuh sehr klein ausfällt oder sehr groß.

Für solche Probleme bräuchte es wohl innovationsfreudige Start-ups. Damit hat die Otto Group doch sehr viel Erfahrung.

Ja, wir sind in mehr als dreihundert Start-ups investiert. Da geht es nicht nur ums Geldverdienen, sondern auch darum, Innovationen zu entdecken und Lösungen für konkrete Probleme. Für uns ist bei einer Zusammenarbeit mit Start-ups, auch wenn wir nicht beteiligt sind, der Vorteil, dass wir kein eigenes Team aufbauen müssen und damit schneller sind. Die Start-ups bekommen im Gegenzug die Möglichkeit, Lösungen gemeinsam mit einem Kunden zu testen und weiterzuentwickeln.

Ein von Ihnen gefördertes Start-up war jetzt für den Zukunftspreis des Bundespräsidenten nominiert: Traceless, Hersteller von Kunststoff aus Biomasse.

Wir arbeiten mit denen bereits seit Jahren zusammen. Und als die Gründerinnen vor drei Jahren den Deutschen Gründerpreis gewonnen haben, habe ich mich persönlich als Pate zur Verfügung gestellt. Der Einsatz von biologisch abbaubaren Verpackungen ist aufwendiger, als man sich das vorstellt. Das Material muss sehr schnell kompostierbar sein, sonst wird das aus den Bioabfällen aussortiert. Die Reißfestigkeit muss stimmen. Und die Optik und Haptik muss den Kunden gefallen. Das sind nur ein paar Stichworte. Aber ja, die Gründerinnen haben das super entwickelt und jetzt wird eine große Fabrik gebaut. Wir werden diese Verpackungen einsetzen.

Und jetzt machen Sie in Sachen Start-ups nochmal ganz was Großes, die Impossible Founders.

Genau, da gab es die Ausschreibung des Bundes für eine Startup-Factory zur Förderung von Ausgründungen aus Hochschulen – und Hamburg hat den Zuschlag bekommen. Nun wird dieses Projekt gefördert durch eine Gruppe von Hamburger Stiftungen und Firmen (darunter die Joachim-Herz-Stiftung, die Michael-Otto-Stiftung, die Otto Group). Für die ersten fünf Jahre haben wir zusätzlich zu den zehn Millionen Euro vom Bund noch einmal 40 Millionen Euro zugesagt. Das Ziel ist, dass Studierende lernen, wie sie mit einer technologischen Idee ausgründen und ein Unternehmen aufbauen können. Das Thema wird Deep Tech sein, vor allem auf grüne Technologien bezogen, auf Künstliche Intelligenz und auf neue Materialien. So wollen wir Hamburg zur führenden Stadt für Start-ups machen, und zwar nicht nur in Deutschland, sondern in Europa.