Universelles Gegengift: Mann lässt sich Hunderte Male freiwillig von Schlangen beißen

Der US-Amerikaner Tim Friede hat sich im Verlauf von 18 Jahren 856-mal mit Schlangengift selbst „abgehärtet“. Nun bauen Forscher aus seinem Blut ein universelles Antidot gegen die teils tödlichen Bisse nach.

Ein einziger Biss der Schwarzen Mamba kann schon tödlich sein. Als Tim Friede nach ihrem Kopf greift, schnappt sie zu – gleich zweimal in den Finger. Wie in dem YouTube-Video zu sehen ist, lässt er sie noch zwei weitere Male in seinen Arm beißen, bevor er sie zu den anderen Schlangen in ihr Terrarium zurücklegt. „Es fühlt sich meist für zwei, drei Tage so an, als würde jemand mit einem Hammer draufschlagen“, sagt Friede und zeigt auf seinen blutigen Finger. Tim Friede, US-Amerikaner, 57 Jahre, tut all dies im Dienste der Wissenschaft.

Tatsächlich ist Friede ein außergewöhnlicher Mensch: Er hat einzigartige Antikörper in seinem Blut, die ihn die Schlangenbisse überleben lassen. Über einen Zeitraum von 18 Jahren hat er sich insgesamt 856-mal mit steigenden Dosen Schlangengift immunisiert. Zum letzten Mal hat er sich im November 2018 von einer Wasserkobra beißen lassen. Es ist eine riskante Arbeit, doch sie könnte bald Tausenden anderen Menschen das Leben retten.

Denn Wissenschaftlern gelang es nun mithilfe seines hyperimmunen Blutes, ein breit wirksames Gegengift im Labor herzustellen: In Tierversuchen erwies es sich gegen 19 der giftigsten Schlangen der Welt als wirksam. Ihre Ergebnisse haben die Forscher des amerikanischen Biotech-Startups Centivax, der National Institutes of Health und der Columbia University am Freitag im Fachjournal „Cell“ veröffentlicht. Die Forschung könnte den tödlichen Bissen ihren Schrecken nehmen.

Die Behandlung von Schlangenbissen ist vor allem in ländlichen Regionen häufig noch eine Herausforderung und wurde 2017 in die Liste der vernachlässigten Tropenkrankheiten der Weltgesundheitsorganisation aufgenommen. Im Schnitt sterben daran jedes Jahr rund 100.000 Menschen, zwischen 300.000 und 400.000 erleiden dauerhafte Behinderungen.

Das Problem: Bisherige Gegengifte, sogenannte Antivenome, wirken meist nur gegen eine oder wenige verwandte Schlangenarten, sodass Betroffene und Ärzte sowohl die Schlange korrekt identifizieren als auch das richtige Gegengift verfügbar haben müssen. Anders beim Blut von Tim Friede: Es ist ein universelles Antidot.

Ein weiterer Nachteil bisheriger Gegenmittel ist, dass die Antivenome aus dem Blut von Tieren wie Schafen oder Pferden hergestellt werden, die zuvor mit Schlangengift immunisiert wurden. Die dabei gewonnenen tierischen Antikörper können im Immunsystem von Menschen allerdings heftige allergische Reaktionen hervorrufen. Das nun von den Forschern entwickelte Mittel könnte auch dieses Problem beseitigen, da es sich dabei um menschliche Antikörper handelt, die für den Körper besser verträglich sind.

Bei seiner Selbst-Immunisierung ließ sich Tim Friede immer wieder von ganz verschiedenen Schlangenarten beißen – Kobras, Taipens, Schwarzen Mambas, Klapperschlangen. Das Forscherteam identifizierte nun in seinem Blut zwei hochoptimierte Antikörper, die (zusammen mit einem speziellen Enzym-Hemmstoff) gegen drei der insgesamt zehn für Menschen gefährlichen Toxin-Gruppen wirken. Derzeit suchen die Forscher nach einem dritten Antikörper in Friedes Blut, um die Wirkung so weit wie möglich zu erweitern.

Auch Michael Hust, Professor für medizinische Biotechnologe an der Technischen Universität Braunschweig, ist von dem Ansatz beeindruckt. Mit dem in der Studie vorgestellten Cocktail bestehe eine große Chance, die bisherigen tierischen Antiseren zu ersetzen und deren zahlreiche Nebenwirkungen zu vermeiden. Der Enthusiasmus und Mut von Friede sei „bemerkenswert“.

Zunächst bleibt abzuwarten, ob das Mittel auch für Menschen wirksam ist. In einer nächsten Phase möchte Jacob Glanville, CEO des verantwortlichen Biotech-Startups Centivax, Versuche an Hunden in Australien durchführen, wo Haustiere häufig von Schlangen gebissen werden. Läuft alles nach Plan, könnten in zwei Jahren erste Tests bei Menschen folgen.

Glanville hat dabei auch eine ganz persönliche Motivation: Obwohl seine Eltern US-Amerikaner waren, wuchs er in einem kleinen Dorf in Guatemala auf, wo medizinische Hilfe oft viele Stunden entfernt war. Schlangen stellten eine ständige Bedrohung dar.

Das Fernziel des Forschers geht sogar noch weit über Schlangengifte hinaus. „Meine Faszination war immer das Thema universelle Immunität“, sagt er. Heute arbeitet er hauptsächlich an einer Grippe-Impfung, die alle Varianten des Grippe-Virus abdecken könnte. In anderen Projekten sucht sein Team nach universellen Impfungen gegen Corona-Viren, Malaria und HIV.

Obwohl Viren ständig mutieren und damit Immunsystem sowie Standard-Impfungen umgehen, haben sie alle eine Achilles-Ferse, wie Glanville sagt: sogenannte konservierte Regionen in ihrem Erbgut, die sich über Jahrmillionen der Evolution nicht verändert haben. Gelänge es, das Immunsystem auf diese Merkmale zu trainieren, könnte hierin der Schlüssel für außerordentlich breit wirksame Impfstoffe liegen, glaubt Glanville – sogar gegen HIV.

Tatsächlich sind die immunologischen Zusammenhänge bei Schlangenbissen im Grunde recht ähnlich: Denn zwar gibt es etwa 650 verschiedene Arten giftiger Schlangen, die alle ihr individuelles Gift produzieren. Doch handelt es sich bei Schlangengiften um Substanzgemische – Kombinationen von zehn für den Menschen gefährlichen Gruppen von Toxinen. Als Glanville die genetischen Sequenzen dieser Toxine untersuchte, fand er auch hier konservierte Regionen, die immer gleich sind. Ein universelles Antidot, so Glanvilles Ausgangsüberlegung, müsste also möglich sein.

2017 las Glanville mehrere Artikel über Tim Friede, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits 654 Immunisierungsdosen verabreicht hatte und 202-mal gebissen wurde. „Ich dachte mein Gott, das ist Wahnsinn“, sagt Glanville. Ein Journalist stellte einen ersten Kontakt zu Friede her, und als er diesen dann anrief, um ihn um sein Blut zu bitten, antwortete Friede lapidar: „Ich habe eine lange Zeit auf diesen Anruf gewartet.“ Tatsächlich ist auch für Friede mit dem Projekt mit Centivax ein Traum in Erfüllung gegangen.