Ulla Schmidt über unpopuläre Reformen: „Ich wurde beschimpft und bedroht“

Frau Schmidt, Sie haben einiges mit Gesundheitsministerin Warken von der CDU gemeinsam: Sie beide kamen unverhofft ins Amt. Wie war es bei Ihnen 2001?

Ich bekam einen Anruf von einer Journalistin, die mir zum neuen Job gratulierte. Ich wusste da noch von nichts. Kurz danach rief mich die Sekretärin von Kanzler Gerhard Schröder an und sagte: „Der Gerd will dich sprechen.“ Der hat es mir dann gesagt. Als ich fragte: „Traust du mir das zu?“, sagte er: „Du musst es dir selbst zutrauen.“

Stimmt. Ich war Sozial- und Frauenpolitikerin und habe mich viel um Behindertenpolitik gekümmert. Ich musste, wie Frau Warken, vom ersten Tag an viel lernen. Das Gute ist, dass die Leute im Ministerium über immens viel Wissen und Erfahrung verfügen, darauf kann man sich verlassen. Anders als in den USA bleiben die Ministerien bei uns nach einem Regierungswechsel weitgehend erhalten, das ist ein großer Vorteil.

Noch eine Parallele zu Frau Warken: Die Gesundheitsfinanzen sind aus dem Lot.

Auf der einen Seite ist die Lage heute schwieriger als früher. Die Milliardendefizite in der gesetzlichen Krankenversicherung, der GKV, sind viel höher als zu meiner Zeit. Damals war auch die prozentuale Beitragsbelastung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern geringer. Die Sätze betrugen Anfang der Zweitausen­derjahre zwischen 13,6 bis 14,3 Prozent. Derzeit sind es mit dem Zusatzbeitrag mehr als 17 Prozent.

Aber andererseits ging es der Wirtschaft noch schlechter als heute. Wir hatten faktisch sieben Millionen Arbeitslose, wenn man die Sozialhilfeempfänger mitzählt. Die Ausgaben der Krankenkassen stiegen, gleichzeitig sanken die Einnahmen in der fallenden Beschäftigung. Heute steigen die Einnahmen zwar weniger stark als die Ausgaben, aber sie steigen. Die Kassen stehen heute wieder mit dem Rücken zur Wand, aber nicht ganz so dicht wie früher. Vergleichbar ist, dass man Milliarden einsparen muss, um das System zu stabilisieren, und dass dieser Kampf hart ist.

Wie haben Sie das angestellt?

Uns ging es darum, die Lohnnebenkosten insgesamt zu senken, um Arbeitsplätze zu schaffen. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz von 2003/2004 haben wir den Bundeszuschuss zur GKV eingeführt, um versicherungsfremde Leistungen wie die Familienmitversicherung zu finanzieren und die Beitragszahler zu entlasten.

Der Bundeszuschuss begann 2004 mit einer Milliarde Euro, inzwischen sind es 14,5 Milliarden im Jahr. Was war damals sonst noch nötig?

Wir mussten Leistungseinschnitte machen, um auf Dauer eine gute Versorgung für alle zu sichern. Nicht verschreibungspflichtige Medikamente wie Kopfschmerztabletten werden seitdem nicht mehr von den Kassen bezahlt, die Erstattung von Brillen oder Taxifahrten wurde eingeschränkt. Wir haben Festbeträge für Arzneimittel eingeführt. Apotheken erhalten seitdem eine Packungspauschale, nicht einen Anteil am Preis, was früher zur Ausgabe teurer Präparate geführt hatte. All diese Neuerungen haben noch Bestand.

Wie auch die Zuzahlung im Krankenhaus.

Die hatte es lange vorher schon gegeben, aber die zehn Euro am Tag für maximal 28 Tage, die kommen von uns. Entscheidend ist: Alle Zuzahlungen sind auf zwei Prozent des Einkommens beschränkt, für chronisch Kranke auf ein Prozent.

Ich war nie eine Anhängerin davon, sondern wollte ein Primärarztsystem, das heute wieder im Koalitionsvertrag steht. Es geht um die Patientensteuerung zum Facharzt, damit man Doppeluntersuchungen vermeidet, Wartezeiten verkürzt, effizienter wird. Zur hausärztlichen Versorgung zählten wir die Allgemeinmediziner, die Internisten, Pädiater, Gynäkologen, Dermatologen, Hals-Nasen-Ohren-Ärzte. Wer zu anderen Fachärzten ohne Überweisung ging, hätte etwas zahlen sollen. Das ließ sich damals aber nicht durchsetzen. Als Kompromiss mit der Union kam die Praxisgebühr von zehn Euro. Die brachte rund zwei Milliarden Euro im Jahr in die Kassen. Wer einem Hausarztvertrag beitrat, musste nicht zahlen, ebenso waren Voruntersuchung und die Behandlung von Kindern frei.

2013 wurde die Gebühr abgeschafft, weil es nicht weniger Arztbesuche gab.

Das war vor allem ein Geschenk der FDP an die Ärzteschaft. Es lag aber auch daran, dass manche Patienten sich zehn Überweisungen geben ließen. Die Notaufnahmen fanden die Gebühr aber gut, da funktionierte die Steuerung. Als die Zahlung wegfiel, stiegen ihre Fälle um 30 Prozent. Heute sind sie wieder überlastet und klagen, dass sie sich auf die wirklich kritischen Fälle nicht konzentrieren können. Man muss sich immer klarmachen: Das Hauptziel ist eine gute Versorgung und nicht, Geld zu sparen.

Aber die Kosten steigen unbändig.

Wir vergessen oft, dass steigende Ausgaben nicht zuletzt die bessere Bezahlung von Pflegekräften und den medizinischen Fortschritt widerspiegeln. Was wir uns alle wünschen. Die Erfolge sind großartig, die Mehrzahl der Tumorerkrankungen lässt sich inzwischen mit hoher Überlebenswahrscheinlichkeit behandeln. Nur ist die individualisierte Therapie sehr teuer. Unser Gesundheitswesen zeichnet aus, dass jeder Anspruch auf Behandlung hat, und zwar auf dem neuesten Stand der Forschung. Ich verstehe, wenn sich die Leute beklagen, dass die Beiträge so hoch sind. Aber sie bekommen auch mehr dafür als früher.

Auf welche Widerstände stießen Ihre Reformen seinerzeit?

Es wurde viel gegen mich protestiert, auch auf den Straßen. Jeder Ärztetag war am Anfang ein Spießrutenlauf. Ich wurde beschimpft und bedroht, und es wurde viel mit den Gefühlen und Ängsten der Patienten gespielt. Die Aufstachelung ging so weit, dass Eltern vors Ministerium zogen, weil sie Angst hatten, dass ihre Kinder sterben. Auf der anderen Seite hatten wir auch viele gute Gespräche mit den Akteuren im Gesundheitswesen.

Mussten Sie den Kopf für andere hinhalten? Es heißt, Ihre Reformen seien im Kanzleramt entstanden, das 2003 die „Agenda 2010“ mit den Hartz-IV-Reformen vorantrieb.

Das hat das Kanzleramt vielleicht versucht, und Kanzler Gerhard Schröder hat zum Beispiel auch Gespräche mit der Pharmaindustrie geführt. Die Hauptarbeit lag in meinem Ministerium, wir haben viel Zeit aufgewendet, um Kompromisse zu finden. Mir war klar, was auch heute wieder gilt: Wir müssen dringend etwas tun, sonst fährt das Gesundheitssystem vor die Wand. Dann haben wir morgen gar nichts mehr.

Sollte man wieder Leistungen streichen?

Man kann dieselben Leistungen kostengünstiger organisieren, etwa durch die Patientensteuerung oder durch die geplante Spezialisierung und Zusammenlegung von Kliniken in der Krankenhausreform. Das wird zum Bettenabbau führen, was nötig ist. Außerdem haben wir zu viele Krankenkassen. Wir haben deren Zahl von mehr als 420 auf 130 gesenkt. Heute sind es 94, 30 würden für den Wettbewerb ausreichen. Auch mehr Telemedizin und mehr Digitalisierung mit Bürokratieabbau führen zu Effizienzsteigerungen. In den Praxen gehen 51 Arbeitstage im Jahr mit Dokumentationspflichten drauf, die fehlen beim Patienten. Im System ist noch viel Musik, ohne dass man, wie wir damals, den Rotstift ansetzen muss.

Und auf der Seite der Einnahmen?

Der Bund sollte in der GKV endlich die vollen Kosten für die Bürgergeldbezieher übernehmen. Die zu schultern, ist nicht Aufgabe der Beitragszahler. Dadurch würden Milliarden frei. Man könnte auch über eine Zuckerabgabe oder höhere Tabak- oder Alkoholsteuern nachdenken.

Apropos Rauchen. Was halten Sie von der Cannabis-Freigabe?

Ich war immer dagegen. Es ist doch widersinnig, aus Gründen des Gesundheitsschutzes ein Rauchverbot in Gaststätten durchzusetzen und dann Cannabis freizugeben. Das hätte ich nicht glaubhaft vertreten können.

Zwischen 2002 und 2005 waren Sie auch Sozialministerin. Damals haben Sie den Nachhaltigkeitsfaktor in der Rente eingeführt. Den will Ihre SPD jetzt aussetzen.

Das hielte ich für falsch. Es geht darum, die jungen Generationen nicht zu überfordern. Der Nachhaltigkeitsfaktor koppelt die Rentenerhöhung an die Demographie: Wenn die Zahl der Beitragszahler im Verhältnis zu den Rentnern abnimmt, dämpft der Faktor den Rentenanstieg, damit die Beitragssätze im Rahmen bleiben. Natürlich gibt es dagegen Widerstände. Umgekehrt fallen aber Rentenerhöhungen etwas stärker aus, wenn die Beschäftigung steigt.

Die Rentner überzeugen. Wenn man mit ihnen redet, verstehen sie das. Ich habe ihnen immer gesagt: Ohne den Nachhaltigkeitsfaktor haben Sie mehr, aber ihre Kinder und Enkel weniger. Die meisten wollen nicht, dass die Jüngeren mehr zahlen. Man muss den Leuten auch heute wieder reinen Wein einschenken und ihnen klarmachen, dass in schwierigen Zeiten eben nicht alles geht. Ich bin sicher, dass die ältere Generation dazu bereit ist, zumal sie ja selbst immer länger und besser lebt. Seit 1980 hat sich die Bezugsdauer der Rente verdoppelt. Früher bekamen die Bürger zum 80. Geburtstag von der Kommune einen Geschenkkorb, heute gibt es den höchstens für Hundertjährige.

Immer mehr Menschen werden gepflegt, die Eigenanteile steigen. Aus Ihrer Partei kommt der Vorschlag, einen Deckel einzuziehen. Den Rest müssten die Pflegekassen übernehmen. Wie sinnvoll ist solch ein Sockel-Spitze-Tausch?

Ich bin absolut gegen Pauschallösungen. Die Eigenanteile müssen sich prozentual an der finanziellen Leistungsfähigkeit der Pflegebedürftigen orientieren, alles andere ist ungerecht. Schon die bestehenden Leistungszuschläge, die je nach Aufenthaltsdauer bis zu 75 Prozent der Eigenanteile übernehmen, funktionieren nicht. Die bekommt jeder unabhängig vom Vermögen und Einkommen, das ist ungerecht.

Zur Person

Die 1949 in Aachen geborene Ursula Schmidt war zwischen 2001 und 2009 unter Gerhard Schröder (SPD) und Angela Merkel (CDU) Bundesgesundheitsministerin. Von 2002 bis 2005 war sie zugleich Sozialministerin. 31 Jahre lang, bis 2021, saß sie für die SPD im Bundestag. Heute steht die ehemalige Lehrerin der Bundesvereinigung Lebenshilfe vor.