Ukraine: Vorwürfe gegen früheren Ukrenergo-Chef werfen Fragen auf

Es ist eines der undurchsichtigsten Verfahren, das derzeit in der Ukraine läuft. In der vergangenen Woche wurde der ehemalige Geschäftsführer des staatlichen Energiekonzerns Ukrenergo, Wolodymyr Kudrytskyj, festgenommen. Ihm werden Amtsmissbrauch und Veruntreuung vorgeworfen. Bei seiner Anhörung legte die Staatsanwaltschaft allerdings keine stichhaltigen Beweise vor, dennoch ordnete der Richter Untersuchungshaft an. Politiker und Nichtregierungsorganisationen üben scharfe Kritik, sprechen teils von einem politisch motivierten Vorgehen. Mittlerweile wurde Kudrytskyj auf Kaution freigelassen.

Er bestritt die Vorwürfe anschließend. Es handle sich um eine „schlecht geplante politische Racheaktion“, schrieb er auf Facebook. Der Prozess sei eine Farce. Man wolle zeigen, was mit Menschen passiere, die es wagen, die Regierung zu kritisieren.

Tatsächlich wirft das Verfahren viele Fragen auf. Da sind zum einen die Vorwürfe selbst, die von der Staatsanwaltschaft erhoben werden. Sie beziehen sich auf das Jahr 2018, als Ukrenergo einen Auftrag zum Bau eines Zauns ausschrieb. Damals leitete Kudrytskyj die Investitionsabteilung des Staatskonzerns. Das Unternehmen, das die Ausschreibung gewann, erhielt eine Vorauszahlung in Höhe von 13,7 Millionen Hrywnja (etwa 283.000 Euro), führte die Arbeiten jedoch nie aus.

Fragen nach dem Zeitpunkt der Verhaftung

Kudrytskyj gilt als verdächtig, weil er den Vertrag mit dem Unternehmen unterzeichnet hatte. Allerdings wurde der Auftrag durch eine Bankgarantie abgesichert. Als der Zaun nicht gebaut wurde, erhielt Ukrenergo das Geld zurück. Dem Staatsunternehmen entstand kein Schaden, betonen Beobachter.

Neben den Vorwürfen gibt es auch Unstimmigkeiten um Kudrytskyjs Festnahme. Er wurde Ende Oktober im Westen der Ukraine verhaftet, weil er sich den Ermittlungen gegen sich entzogen haben soll. In der Vorwoche war er nach eigener Darstellung von der Polizei in seinem Auto angehalten worden. Diese habe ihm sein Handy abgenommen. Am selben Tag durchsuchte das Staatliche Ermittlungsbüro sein Haus. Danach besorgte sich Kudrytskyj ein neues Handy und fuhr mit seiner Familie in die Westukraine. Laut Staatsanwaltschaft beides Anzeichen dafür, dass er sich ins Ausland absetzen wollte. Seine Anwälte argumentieren hingegen, dass die Familie ihre Pässe in Kiew gelassen habe und der Urlaub schon länger geplant gewesen sei.

Schließlich bleibt die Frage nach dem Zeitpunkt der Verhaftung. Medienberichte legen nahe, dass es etwas mit der aktuellen Lage in dem Kriegsland zu tun haben könnte. Seit Wochen attackiert Russland gezielt ukrainische Energieanlagen, wie jedes Jahr vor dem Winter. Schon jetzt gibt es in vielen Teilen des Landes täglich Stromausfälle. Etliche Ukrainer fragen sich, ob man im vierten Kriegsjahr nicht besser hätte darauf vorbereitet sein müssen.

Überraschende Ablösung als Ukrenergo-Chef

Muss Kudrytskyj also als Sündenbock herhalten? Der Neununddreißigjährige war 2020 zum Geschäftsführer von Ukrenergo ernannt worden. Er war dafür verantwortlich, dass Kraftwerke, Umspannwerke und Stromleitungen funktionieren. Die F.A.Z. traf ihn vor drei Jahren in ­Kiew, als die russische Armee erstmals begann, gezielt die Energieinfrastruktur der Ukraine anzugreifen. Man sah Kudrytskyj an, wie sehr ihn die Situation belastete. „Die Zeit, um eine Rakete auf zivile Infrastruktur abzuschießen, ist viel kürzer als die Zeit, die wir für den Wiederaufbau benötigen“, sagte er damals. Ein ungleicher Kampf.

Licht für die Ukraine: Aufnahme aus der Ukrenergo-Zentrale im November 2022
Licht für die Ukraine: Aufnahme aus der Ukrenergo-Zentrale im November 2022Lucas Bäuml

In dieser Zeit präsentierte er sich als verlässlicher Partner, warb bei internationalen Institutionen Millionen für den Wiederaufbau der ukrainischen Energieanlagen ein. Im vergangenen Herbst wurde Kudrytskyj überraschend seines Postens enthoben. Er soll die Energieinfrastruktur nicht ausreichend gegen russische Angriffe geschützt haben, hieß es zur Begründung. Seitdem arbeitete er im Privatsektor und kritisierte öffentlich die Korruption bei Ukrenergo.

Schon seine Entlassung vor einem Jahr löste Empörung aus. Aus Protest legten zwei Mitglieder des Aufsichtsrats von Ukrenergo ihre Ämter nieder; sie bezeichneten die Entlassung als „politisch motiviert“. Immer wieder berichten ukrai­nische Medien von Machtkämpfen in dem milliardenschweren Staatsunternehmen. In einem Interview, das Kudrytskyj nach seiner Entlassung gab, sprach er davon, dass der Staat mehr Kontrolle über den ukrainischen Energiesektor erlangen wolle. Während er für eine Liberalisierung des Strommarktes und mehr private Investitionen gewesen sei, habe die Regierung die Zentralisierung vorangetrieben.

Welche Rolle spielt der Justizminister?

Nach seiner Verhaftung veröffentlichten mehrere ukrainische Denkfabriken eine gemeinsame Erklärung, in der sie die Behörden auffordern, die Ermittlungen mit „größtmöglicher Unparteilichkeit, Objektivität und politischer Neutralität“ durchzuführen. „Politisch motivierte Maßnahmen gegen Fachleute in Machtpositionen sind in jedem Land, besonders in Kriegszeiten, ein Schlag gegen die Staatlichkeit, kein Ausdruck von Gerechtigkeit“, heißt es in dem Schreiben.

Darin wird auch auf den EU-Beitrittsprozess verwiesen. Erst in dieser Woche mahnte die Kommission in ihrem Fortschrittsbericht zur Ukraine weitere Fortschritte zur „Stärkung der Unabhängigkeit, Integrität, Professionalität und Effizienz der Justiz“ an.

Auch die Oppositionspolitikerin Inna Sowsun meint, dass diese Geschichte dem Ansehen der Ukraine im Ausland schade. „Gerade jetzt, wo wir entscheidend auf das Vertrauen unserer Partner angewiesen sind.“ Kudrytskyj habe das Stromnetz „während der schwierigsten Zeit des Krieges für den Energiesektor“ am Laufen gehalten. Und er habe versucht, die politische Einflussnahme durch den damaligen Energieminister Herman Haluschtschenko auf Ukrenergo zu begrenzen. Dieser ist seit dem Sommer Justizminister. „Es sieht eher nach einer politischen Abrechnung aus als nach einem Prozess in einem Rechtsstaat“, so Sowsun.

Antikorruptionspolitikerin sieht keine Beweise

Wie sie war auch die Vorsitzende des Antikorruptionsausschusses im Parlament, Anastasija Radina, bei Kudrytskyjs Anhörung im Gerichtssaal. Sie gehört zur Fraktion der Präsidentenpartei Diener des Volkes. Radina kritisiert im Gespräch mit der F.A.Z. vor allem, dass es keine Beweise für die Vorwürfe gibt. Die Anklage habe nichts vorgelegt, was Kudrytskyj in irgendeiner Weise mit dem Auftragsunternehmen in Verbindung bringen würde oder zeige, dass er Geld unterschlagen habe. Dennoch stimmte der Richter der Untersuchungshaft zu. „Für mich sieht das nicht nach Gerechtigkeit aus, sondern nach einem Strafverfahren, in dem das Wichtigste fehlt: Beweise“, sagt Radina. Das ganze Vorgehen trage leider zu der Vermutung bei, dass es politisch motiviert sei.

Der Politikwissenschaftler Wolodymyr Fesenko vermutet, dass es sich eher um einen geschäftlichen Konflikt handelt. Kudrytskyj füge sich in eine Reihe von Fällen ein, in denen ranghohe Staatsbedienstete wegen angeblicher Korruption belangt werden. Oft gebe es dabei einen politischen Unterton. „Er war kein Oppositioneller, aber im Energiesektor gab es offenbar Kämpfe um Finanzströme“, sagt Fesenko der F.A.Z. Als Kudrytskyj bestimmten Entscheidungen nicht zustimmen wollte, wurde er entlassen und nun offenbar ein Strafverfahren gegen ihn konstruiert. „Ich bin überzeugt, dass das Verfahren scheitern wird.“

Kudrytskyj muss bis auf Weiteres eine elektronische Fußfessel tragen und darf seinen Wohnort nicht ohne Erlaubnis des Gerichts verlassen. Die Kaution, die der Richter festgelegt hat, beträgt 13,7 Millionen Hrywna – die Summe, die er unterschlagen haben soll. Laut seinen Anwälten habe nicht Kudrytskyj die Kaution gezahlt. Das Geld sei von „Sympathisanten“ gekommen.