
Schwerwiegende Korruptionsvorwürfe erschüttern die Ukraine. Unter Verdacht: Mehrere Minister und ein Wegbegleiter Selenskyjs. Präsidialamtschef Andrij Jermak verteidigt Selenskyj – und wittert politische Instrumentalisierung.
Der Leiter des ukrainischen Präsidialamts, Andrij Jermak, hat im Zuge des mutmaßlichen Korruptionsskandals in der Ukraine die Veröffentlichung von Ermittlungsergebnissen kritisiert. „Natürlich können die Menschen, die darin verwickelt sind, nicht an der Macht bleiben. Aber es ist notwendig, dass das auf Fakten beruht, nicht auf Manipulation“, sagte Jermak im Exklusivinterview mit WELT und dem Axel Springer Global Reporters Network in Kiew. Er warnte in diesem Zusammenhang vor einer politischen Instrumentalisierung des Falls.
Gleichzeitig verteidigte Jermak den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj und wies jede Beteiligung dessen an dem Skandal zurück. „Er ist eine sehr prinzipientreue Person. Er ist nicht korrupt. Und das ist sehr wichtig – ein Anführer, der den Kampf gegen Korruption erklärt, muss selbst unbestechlich sein.“
Seit Anfang dieser Woche erschüttern die schwersten Korruptionsvorwürfe seit Russlands Vollinvasion die Ukraine. Die Antikorruptionsbehörde NABU hat ein mutmaßliches Schmiergeldsystem im Energiesektor sowie die Veruntreuung von rund 87 Millionen Euro aufgedeckt. Die Ermittlungen dauerten 15 Monate und umfassen Hunderte Stunden abgehörter Gespräche.
Selenskyj steht unter Druck, weil unter den Verdächtigen nicht nur ehemalige und bis vor wenigen Tagen amtierende Minister seiner Regierung sind, sondern mit Timur Minditsch auch ein früherer Geschäftspartner des Präsidenten. Minditsch ist Miteigentümer einer Produktionsfirma, die Selenskyj einst mitgründete. In der Ukraine sorgte es für Aufsehen, dass sich Minditsch kurz vor einer Durchsuchung ins Ausland absetzte – und wahrscheinlich zuvor gewarnt worden war. Im Visier der Ermittler ist auch Selenskyjs Justizminister Herman Haluschtschenko, der am Mittwoch vorläufig entlassen wurde.
Jermak stellte im Interview mit WELT klar, dass jeder, der in diesem Skandal „auch nur eine kleine Schuld trägt, zur Verantwortung gezogen werden“ müsse. Gleichzeitig kritisierte der Selenskyj-Vertraute die – seiner Ansicht nach – vorschnelle Nennung von Verdächtigen in der Öffentlichkeit. „Warum nennen einige Medien schon Namen, bevor es echte Beweise oder eine Gerichtsentscheidung gibt? Auch das gehört zum rechtlichen Verfahren“, sagte Jermak, der von potenzieller Rufschädigung sprach – auch gegen Präsident Selenskyj.
„Schauen Sie nur, wie die Kampagne gegen Präsident Selenskyj 2019 begann: dieselben Dinge. Sie sagten: ‚Er ist ein Freund von Kolomojskyj. Er steht Kolomojskyj nahe.‘ Aber Kolomojskyj ist im Gefängnis. Schauen wir auf die Fakten.“ Kolomojskyj war einer der einflussreichsten ukrainischen Oligarchen und unterstützte Selenskyj im Wahlkampf 2019. Vor drei Jahren – während Selenskyjs Amtszeit – wurde er im Rahmen von Betrugsermittlungen festgenommen.
Schon seit längerer Zeit tobt in der Ukraine ein Machtkampf zwischen Ermittlern des Antikorruptionsbüros NABU und Teilen der Selenskyj-Regierung. Auslöser der landesweiten Proteste im vergangenen Sommer war ein damals geplantes Gesetz, das NABU und die dazugehörige Staatsanwaltschaft SAPO entmachten sollte. Erst als die Proteste größer wurden und sich auch europäische Staatschefs wie Bundeskanzler Friedrich Merz einschalteten, lenkte Selenskyj ein. Schließlich verabschiedete das Parlament ein neues Gesetz, das umfassende Garantien für die Unabhängigkeit der Antikorruptionsbehörden festschreibt.
„Absolut freie Ermittlungen“
Jermak sprach in Bezug auf den aktuellen Skandal von „absolut freien Ermittlungen“, die zeigten, dass die ukrainischen Antikorruptionsbehörden unabhängig arbeiten könnten. Auf die Frage jedoch, ob er die Vorwürfe für eine politische Kampagne gegen Selenskyj oder gegen sich selbst halte, antwortete der Präsidialamtschef: „Warten wir einfach ab, wie diese Ermittlungen enden. Definitiv nutzen einige politische Kräfte sie aus. Definitiv. Ich sehe das. Absolut. Und vergessen Sie nicht, wir haben immer noch Krieg. Und natürlich nutzt Russland das aus.“
Im Zentrum des aktuellen Korruptionsskandals steht ein mutmaßliches Betrugssystem beim staatlichen Atomkraftunternehmen Energoatom. Firmen, die dort Aufträge erhielten, sollen laut Ermittlern einen Teil des Geldes wieder abgeben müssen – Schmiergelder von bis zu 15 Prozent des Auftragswerts. Einige dieser Verträge betrafen den Bau von Schutzanlagen, die die ukrainische Energieinfrastruktur vor russischen Angriffen sichern sollten. Das sorgt in der Ukraine für Empörung, da Russland in diesem Winter erneut systematisch Energieanlagen angreift und viele Menschen im Land wegen der Schäden nur stundenweise am Tag Strom haben.
In der Nacht von Donnerstag auf Freitag griff Russland ukrainische Städte erneut mit Massen an Langstreckendrohnen, Marschflugkörpern und ballistischen Raketen an. In Kiew kam es ab Mitternacht zu Einschlägen und zu Abschüssen durch die ukrainische Flugabwehr.
