Die Stille in Kiew wirkte am Dienstag wie die berühmte Ruhe vor dem Sturm. Nachdem am Vortag einer der größten Korruptionsskandale der Ukraine bekannt geworden war, äußerten sich zwar die Regierung und der Präsident kurz zu den Ermittlungen, Konsequenzen folgten zunächst aber keine. Auch als das Nationale Antikorruptionsbüro (NABU) erste Festnahmen meldete und weitere Beweismaterialien veröffentlichte, blieb es still. In Wolodymyr Selenskyjs Abendansprache fand das Thema am Dienstag schon keine Erwähnung mehr. Dabei reicht der Kreis der Verdächtigen bis in das Regierungskabinett und in seinen persönlichen Freundeskreis.
Am Mittwochmorgen blitzten dann die Eilmeldungen auf den Telefonen auf. Justizminister Herman Haluschtschenko sei suspendiert worden, hieß es nun. Dieser war bis zum Sommer Energieminister und gilt als zentrale Figur in dem kriminellen Netzwerk, das 100 Millionen Dollar beim staatlichen Atomkraftwerkbetreiber Energoatom unterschlagen haben soll. „Heute Morgen fand eine außerordentliche Sitzung der Regierung statt“, teilte die ukrainische Ministerpräsidentin Julija Swyrydenko am Mittwoch auf Telegram mit. „Es wurde beschlossen, Haluschtschenko von seinen Aufgaben als Justizminister zu entbinden.“ Haluschtschenko kommentierte den Schritt auf Facebook. „Ich werde mich nicht an mein Amt klammern“, schrieb er. „Ich halte eine Suspendierung für die Dauer der Ermittlungen für einen zivilisierten und richtigen Schritt.“ Er kündigte an, juristisch gegen die Vorwürfe vorzugehen.
Beide Minister reichen Rücktritt ein
Während es am Morgen Gerüchte gab, Selenskyj könnte sich am Mittwoch noch zur Suspendierung äußern, wurden weitere Rücktrittsforderungen laut. Die Vorsitzende des Antikorruptionsausschusses im ukrainischen Parlament, Anastasija Radina, schrieb auf Facebook, dass die Entlassung des Justizministers nicht ausreiche. Auch ein zweiter Minister müsse zurücktreten oder des Amtes enthoben werden. Damit bezog sie sich offenbar auf Switlana Hryntschuk, die aktuelle Energieministerin. Die vom NABU veröffentlichten Audiomitschnitte legen nahe, dass auch sie in den Skandal verwickelt sein könnte.
Am Nachmittag veröffentlichte Selenskyj dann eine weitere Videobotschaft. Darin forderte er direkt den Rücktritt von Haluschtchenko und Hryntschuk. Beide könnten ihre Ämter nicht behalten, sagte der Präsident. „Das ist neben anderen Dingen eine Frage des Vertrauens.“ Er habe die Ministerpräsidentin angewiesen, sicherzustellen, dass die beiden Minister ihre Rücktritte einreichen. „Ich bitte die Parlamentsabgeordneten, diese Gesuche zu unterstützen.“ Kurz darauf bestätigte Swyrydenko den Erhalt beider Rücktrittsgesuche. Das Parlament werde bald darüber entscheiden.
Haluschtschenko hielt die Fäden in der Hand
Selenskyj kündigte zudem Sanktionen gegen zwei weitere Personen an, die in den Korruptionsfall um Energoatom verstrickt sein sollen. Swyrydenko bestätigte anschließend, dass es sich dabei um die Unternehmer Olexandr Zukerman und Tymur Minditsch handelt. Letzterer ist ein langjähriger Freund von Selenskyj und konnte sich wenige Stunden vor den Durchsuchungen ins Ausland absetzen. Er soll sich in Israel aufhalten. Minditisch wird beschuldigt, der Kopf des kriminellen Netzwerks bei Energoatom zu sein.
Zu den im Zuge der Durchsuchungen Festgenommenen gehört auch Dmitrij Basow, der für die Sicherheit bei Energoatom zuständig war. Am Mittwoch entschied ein Gericht in Kiew Medienberichten zufolge, dass Basow für 60 Tage in Untersuchungshaft bleiben muss. Der Richter legte demnach eine Kaution in Höhe von 40 Millionen Hrywna fest. Laut Staatsanwaltschaft versuchte Basow, bei den Durchsuchungen Beweismittel, sein Handy und Dokumente zu vernichten. Basow wies die Vorwürfe zurück und behauptete, nichts mit dem Netzwerk zu tun zu haben.
Dazu werden indes immer neue Details bekannt. So berichtete das Medium „Ukrainska Prawda“, dass Haluschtschenko auch nach seinem Wechsel ins Justizministerium weiter großen Einfluss auf seine Nachfolgerin Hryntschuk und von ihm eingestellte Beamte hatte. Haluschtschenko wiederum gilt als Protegé von Minditsch. Ukrainische Medien weisen zudem auf einen Zusammenhang zwischen den Ermittlungen gegen Minditsch und Selenskyjs Versuch im Sommer, Befugnisse des NABU und der Sonderstaatsanwaltschaft zur Korruptionsbekämpfung einzuschränken. Erst nach landesweiten Protesten rückte die Regierung von dem Vorhaben ab.
Einige Parlamentsabgeordnete treiben indes die Aufarbeitung des Skandals voran. So soll am Montag im Energoatom-Fall eine offene Sitzung des Ausschusses zur Untersuchung von Wirtschaftsverbrechen stattfinden.
