Überzeugender Titelheld, gutes Umfeld: Der neue „Don Giovanni“ im Nationaltheater

Wie das denn gehen möge, fragt sich der geneigte Besucher womöglich, nachdem er Kunde davon bekommen hat, die antike Unterweltsgöttin Proserpina würde in der Ouvertüre von Don Giovanni Besitz ergreifen und daraufhin in männlicher Gestalt seine Liebesabenteuer. Aber so papieren und wider die Grundregel „Show, don’t tell“ wie es nacherzählt wirkt, hat David Hermann es auch inszeniert: Mit einem Höllenfeuervideo, einem wild gestikulierenden Tänzerpaar und ganz viel  projizierter Gebrauchsanweisung.

Dazu lässt Vladimir Jurowski das Bayerische Staatsorchester in der Ouvertüre donnernd aufrauschen, so energisch, dass am Premierenabend die flammenden Bläserfiguren die nicht minder wichtigen Streicher fast völlig verzehren. Dann folgt eine völlig umgedrehte Eingangsszene: Nicht Anna flieht vor Don Giovanni, sondern die Frau möchte die verwandelte Proserpina eigentlich im Bett behalten. Und der Komtur wird anschließend von Pluto erledigt, was Giovanni von jeder Schuld oder gar Tragik befreit.

Das funktioniert erstaunlich gut. Es donnert und feuert es noch ein paarmal, dann  verliert sich die Grundidee vorläufig zugunsten einer sehr präzisen, in die Gegenwart versetzten Paar-Psychologie einschließlich eines realistischen Notarzteinsatzes. Auf Donna Anna lastet der Liebesverrat, und weil sie einerseits die Beziehung zum smarten, aber auch schwachen Ottavio dominiert, ihn andererseits aber auch nicht verlassen kann, verzweifelt Don Ottavio an ihrer Verweigerung.

Vera-Lotte Boecker (Donna Anna) und Giovanni Sala (Don Ottavio) im ersten Akt.
Vera-Lotte Boecker (Donna Anna) und Giovanni Sala (Don Ottavio) im ersten Akt.
© Geoffroy Schied
Vera-Lotte Boecker (Donna Anna) und Giovanni Sala (Don Ottavio) im ersten Akt.

von Geoffroy Schied

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Giovanni Sala und Vera-Lotte Boecker spielen dieses komplexe, in Widersprüchen verstrickte Paar sehr überzeugend und auf eine Weise zeitlos heutig, wie es selten besser zu sehen war. Die in jedem anderen Punkt außer ihrer Leidenschaft für Giovanni sehr selbstbewusste und emanzipierte Elvira hat danach einen exaltierten Auftritt in einem Standesamt, das von Jo Schramm in allerschönster Verwaltungsarchitektur auf die Bühne des Nationaltheater gebracht wurde. Auch die girliehafte Zerlina und ihr etwas naiver Masetto wirken ausgesprochen heutig.

Der beste Don seit langem

Auf Don Giovanni kultiviert die Inszenierung einen eher restaurativen Blick. Das fällt nur deshalb kaum auf, weil Konstantin Krimmel es schafft, die männlichweibliche Kunstfigur dieser Inszenierung in einer Weise lebendig auf die Bühne zu stellen, dass man nur mit offenem Mund hören und staunen kann. Passend zu seinem kraftvollen Bariton spielt er einen hedonistischen, das Leben in vollen Zügen genießenden Lebemann.

Konstantin Krimmel als Don Giovanni.
Konstantin Krimmel als Don Giovanni.
© Geoffroy Schied
Konstantin Krimmel als Don Giovanni.

von Geoffroy Schied

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Die Rezitative meistert der 32-Jährige ebenso souverän wie das rasche Parlando der Arie „Fin ch’han dal vino“. Sein Meisterstück ist die wie ein Kunstlied subtil ausgedeutete Serenade, und auch im alles fordernden Schluss bleiben keine Wünsche offen. Er  ist, ohne Übertreibung sei’s gesagt, der souveränste Giovanni seit Generationen. Und die bisher manchmal zu beobachtende darstellerische Gehemmtheit hat Krimmel komplett abgelegt: Er spielt, dass die Fetzen nur so fliegen.

Ein gutes, wenn auch nicht überragendes Ensemble

Dem kann Giovanni Sala immerhin einen sicher geführten Tenor entgegensetzen, den der Dirigent in „Il mio tesoro“ in Richtung Seria-Bravourarie austestet, was als Grenzgang so interessant wie riskant wirkte. Avery Amereaus kräftiger Mezzo passt zu einer modernen, eher kantigen Zerlina. Die beiden anderen Damen singen ein wenig scharf und nicht bis in die letzte Koloratur sicher, aber das passt zu Jurowskis dramatisierten Mozart. Es hat viel für sich, dass gegen jeden Fassungspurismus mit Elviras „Mi tradi“ und Annas „Non mi dir“ zwei sehr unterschiedliche Porträts emotionaler Überspanntheit gegen Ende der Oper einander gegenüberstehen.

Don Giovannis Fest am Ende des ersten Akts
Don Giovannis Fest am Ende des ersten Akts
© Geoffroy Schied
Don Giovannis Fest am Ende des ersten Akts

von Geoffroy Schied

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Leporello passt nicht wirklich ins Konzept des Regisseurs, und so bleibt der mit schlankem Bass singende, auf alle Mätzchen verzichtende Kyle Ketelsen fast so blass wie Masetto, dessen Arie Michael Mofidian mit einer stimmlichen Statur singt, die auf Giovannis Diener hinausweist. Christof Fischesser ist als Komtur ein wenig hartstimmig und der einzige (relative) Schwachpunkt einer recht runden Besetzung.

Jurowskis Bitter-Mozart

Die drei Orchester bei Don Giovannis Fest sind ausnahmsweise deutlich hörbar, und es schadet auch nicht, dass die Instrumentierung im Interesse der Deutlichkeit mit einer Gitarre und einem Tamburin nachgewürzt wurde. Julian Perkins begleitet am Hammerklavier nicht nur die Rezitative, sondern auch die technisch wie am Schnürchen laufenden Umbauten. Über die im zweiten Teil eingefügten Zutaten und den Strich in der Scena ultima kann man geteilter Meinung sein, wie überhaupt Jurowskis schroffer und nicht besonders sängerfreundlicher Bitter-Mozart nicht jedem gefallen dürfte. Aber selbst Skeptiker müssen der Aufführung eine hohe innere Konsequenz zugestehen.

Vladimir Jurowski
Vladimir Jurowski
© Wilfried Hösl
Vladimir Jurowski

von Wilfried Hösl

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Proserpina und Pluto irrlichtern durch das erste Finale, im zweiten Akt entwickelt die Göttin weiterer erotische Gelüste, die zu einer Schlusspointe führen. Spätestens auf dem Friedhof wird deutlich, wozu der mühevoll gezimmerte mythologische Rahmen dient: Er ist eine Krücke, um dem Regisseur gedanklich durch das Finale mit dem steinernen Gast hinken zu lassen, das erfahrungsgemäß mit  jenem psychologischem Standesamts-Realismus nicht zu bewältigen ist, den der Regisseur souverän beherrscht.

Die Überlebenden in der Scena ultima nach Don Giovannis Höllenfahrt
Die Überlebenden in der Scena ultima nach Don Giovannis Höllenfahrt
© Geoffroy Schied
Die Überlebenden in der Scena ultima nach Don Giovannis Höllenfahrt

von Geoffroy Schied

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Aber das sind Probleme, mit denen jeder „Don Giovanni“  der vergangenen 20 Jahre in und um München zu kämpfen hatte. Die Staatsoper bietet immerhin einen ungewöhnlich überzeugenden Titelhelden aus dem Ensemble auf, dazu eine halbwegs runde Besetzung und eine sehr pointierte musikalische Interpretation. Dass die Inszenierung nicht rund läuft, muss man in Kauf nehmen. Aber sie steht weit über der mäßigen Inszenierung Nicholas Hytners (1994) und dem Gesamt-Debakel der rotierenden Container von 2009. Ganz glücklich wird man bei dieser Oper szenisch nie, und deshalb braucht sich diese  in vielen Momenten hochoriginelle Aufführung vor nichts und niemandem zu verstecken. 

Die Aufführung vom 6. Juli wird ab 19 Uhr als „Oper für alle“ bei freiem Eintritt auf den Max-Joseph-Platz und ins Internet übertragen