Über den Linden: Winter im Wedding

Wir saßen im Keton in der Dizengoffstraße, aßen Tschulent und redeten über Leons Angst davor, nach Berlin zurückzufahren. Er war vier Monate in Tel Aviv gewesen, weil er eins von diesen Stipendien gekriegt hatte, wie sie neuerdings an Künstler verteilt wurden, die glaubten, sie könnten zu Hause nicht gut arbeiten, mit Wohnung in Yaffo und Atelier in Schapira, dem neuen Künstlerviertel. „Ich hab keine Angst zurückzufahren“, sagte Leon trotzig, „ich will einfach nicht!“ „Warum nicht“, sagte ich, als ob ich die Antwort nicht selbst gekannt hätte. „Wedding im Winter“, zischte er, während die warme israelische Oktobersonne in Zeitlupe über den Bürgersteig auf uns zukroch. „Ja, ich verstehe.“ „Und jede Woche eine andere Unterschriftenliste, in der Israel zur Schnecke gemacht wird!“ Ich nickte. „Und Kuratoren und Kritiker, die mir sagen, ich soll nicht ständig Arbeiten über meine jüdische DDR-Familie machen.“ Aus den alten Boxen kam Paroles, paroles von Dalida, und ich dachte, Worte, nichts als Worte.

Das Keton war wahrscheinlich das letzte Restaurant in Tel Aviv, in dem noch so gekocht wurde wie früher in jeder jüdischen Familie in Polen oder Brooklyn. Die meisten Gäste waren über achtzig oder alterslose amerikanische Touristen mit glatten, vor zu viel Sonnenmilch glänzenden Wangen, die sich hier an ihre Kindheit erinnern wollten. Jedes Mal, wenn ich nach Tel Aviv kam, hatte ich Angst, dass das Keton vielleicht zugemacht hätte. Israel ohne eine Spur Diaspora? Das würde ich nicht aushalten.

„Aber hier kann ich auch nicht für immer bleiben!“ Er sah an mir vorbei auf die Straße und spießte mit der Gabel das letzte Stück Kischke von seinem Teller auf. „Hier hätte ich bald noch schlechtere Laune.“ „Natürlich hättest du die“, sagte ich, ich lachte und dachte daran, wie oft ich schon selbst aus Berlin für immer nach Israel verschwinden wollte. „Hier hätte ich einfach kein Material für meine Arbeit“, erklärte er plötzlich noch lauter und aufgeregter, „das wartet auf mich in Deutschland!“ „Was meinst du? Deine Familie? Meinst du all die Kahanes, die Klemperers und anderen Juden, die ernsthaft glaubten, dass ihre SED-Genossen keine Antisemiten sein könnten? Und die selbst Stalin und Ulbricht zu sehr liebten?“ Er legte die leere Gabel auf den Teller und nickte. Neulich hat er eine Ausstellung über seinen Großvater Max gemacht, der den Großen Krieg in Frankreich überlebte und später mehrere Jahrzehnte lang das Neue Deutschland vollschrieb. Sie war deshalb so gut gewesen, weil er mit Max nicht abrechnete, ihn nicht heroisierte, sondern nur dessen typische jüdische Jahrhundert-Verunsicherung zeigte.

„Was ist eigentlich mit dem Zwanzig-Punkte-Plan von Trump„, sagte ich, während sie im Restaurant Something Stupid von Frank und Nancy Sinatra spielten, „meinst du, das wird was?“ „Ja, natürlich!“, rief Leon sofort aus, und die ewige Spannung in seinem schönen blassen jüdischen Heldengesicht löste sich endlich. „Ja, ja, ich bin sehr optimistisch! Aber zuerst müssen wir die Geiseln zurückkriegen.“ Mir fiel mein neuer Freund Ari ein, der Tel Aviver Friedensfreund und Bibi-Hasser, der die ganze Nacht mit Tausenden anderen schon mal vorab auf dem Platz der Geiseln vor dem Tel Aviv Museum getanzt und sich bis sechs Uhr morgens betrunken hatte. Ich selbst war nicht dort gewesen, und ich bin auch sonst in diesen zwei Wochen Spätsommer, Sonne und Anna nicht hingegangen. Wenn ich vor der Akropolis stehe, steige ich auch nicht hinauf, dachte ich, um meine Faulheit vor mir selbst zu verteidigen.

„Die Hamas hat keine Chance mehr“, sagte Leon jetzt wieder mit seinem seligen Friedensstrahlen, „es ist ja auch kaum einer von ihnen übrig geblieben. Und alle anderen da unten glauben wirklich an Trumps Gaza-Riviera und die Milliarden, die sie dort jetzt verdienen können.“ „Und wer nimmt den Muslimbrüdern ihre letzten Kalaschnikows weg?“ „Kushner und Witkoff persönlich! Ach, keine Ahnung.“ Er zahlte für uns beide und sagte: „Du zahlst das nächste Mal im Good Friends.“ Dann suchte er auf dem Telefon einen Mietroller, weil er schnell nach Yaffo und packen musste. Als wir aus dem Keton rausgingen, sangen hinter uns ein paar Doo-Wop-Frauenstimmen aus den Sechzigern: „Mr. Sandman, bring me a dream …“

Zehn Tage später – Leon war schon in Berlin, Anna und ich waren einen Tag vorher zurückgekommen – ließ sich der charmante Menschenfeind Donald J. Trump in der Knesset dafür bejubeln, dass dank ihm am Vormittag die letzten zwanzig lebenden Israelis die palästinensischen Tunnel und Kinderzimmer verlassen hatten. Ich lag am Zionskirchplatz auf meinem grauen Sofa, guckte mir das ganze Theater auf ntv an, und ab und zu guckte ich zum Fenster, in dem mir der Berliner Selbstmordhimmel mit sechs Monaten Depression und sehr vielen schlechten Netflix-Serien drohte.

Ich rief Leon an. „Guckst du es auch?“, sagte ich. „Ja.“ „Glaubst du immer noch, dass jetzt der ewige Frieden kommt?“ „Klar.“ „Ich hab dich das nie gefragt“, sagte ich, „aber was hast du eigentlich die ganze Zeit in Tel Aviv gemacht?“ „Leute gesehen, Ideen aufgeschrieben und mit Sumpfkalk experimentiert.“ „Das ist viel“, sagte ich. „Ja“, sagte er, „das ist mehr, als ich manchmal in einem Jahr Berlin schaffe.“