Er habe, sagte der Mann im Gerichtssaal, vorher noch nie im Leben eine Leiche gesehen, als er sie auf dem Bett liegen sah, und ihr Onkel sagte, er solle sie wegschaffen. Er, der Nachbar. Wirf sie in den Fluss, habe ihm der Onkel gesagt.
Das tat er dann. Und schwieg. Wie sie alle schwiegen in Tavşantepe, einem Dorf im Südosten der Türkei. Sie schwiegen, während die Polizei im Sommer nach Narin suchte, 19 Tage lang. Sie schwiegen weiter, als Narin Gürans Leichnam gefunden wurde, in einem Flussbett gleich in der Nähe des Dorfs, und als sich herausstellte, dass sie am ersten Tag des Verschwindens getötet worden war. Sie schwiegen, als sie schon alle in Untersuchungshaft saßen. Der Nachbar. Narins Onkel. Narins Bruder. Narins Mutter.
Narin, acht Jahre alt, mutmaßlich erwürgt, weil sie etwas wusste, was sie nicht wissen sollte.
Am Donnerstag begann der Prozess in Diyarbakır, der nächsten Großstadt. In einem Gerichtssaal, in den 300 Menschen passen, an diesem Tag war er zu klein. Einen solchen Prozess habe er noch nie erlebt, sagte der Richter. Draußen standen Fernsehteams, schon am Morgen hatten Menschen demonstriert, vor allem Frauen, die seit Narins Tod wieder überall im Land auf die Straße gingen.
Die finden, dass die Politik eine Mitschuld trage am Tod des Mädchens, am Tod so vieler Mädchen und Frauen in der Türkei. Allein im Oktober, meldete gerade eine Frauenorganisation, wurden 48 türkische Frauen getötet, 23 starben unter verdächtigen Umständen. Weil, so sagen Aktivistinnen, die Gesetze zum Schutz vor häuslicher Gewalt nicht umgesetzt werden.
Der Fall könnte auch dem Präsidenten schaden
Unter eines der Bilder der Menschenmenge vor dem Gericht schrieb jemand am Donnerstag auf der Plattform X: Narin, deine Familie ist gekommen. Er meinte die Aktivistinnen. Ihre eigentliche Familie saß auf der Anklagebank.
Einer dieser Fälle ist das, die ein ganzes Land beschäftigen. Nicht nur, weil Narins Todesumstände so bizarr erscheinen. Es ist das Schweigen. Ein Mädchen verschwindet, wird tot gefunden, und niemand aus dem Dorf spricht? Am Donnerstag stand eine TV-Reporterin vor dem Gerichtsgebäude, am Nachmittag, nach den ersten Stunden, und sagte in die Kamera: „Da ist eine systematische Bosheit in diesem Dorf. Man kann es im Saal spüren.“
Präsident Erdoğan merkte, wie der Fall das Land aufwühlte, er versprach Aufklärung und Strafe. Er sah auch, dass ihm der Fall politisch schaden könnte. Ein frommes Kurdendorf. Es sind seine Wählerinnen und Wähler. Ein Abgeordneter seiner AKP hatte anfangs verkündet, er sei mit der Familie befreundet, man solle sie, sinngemäß, nicht weiter verletzen.
Kam nicht gut an im Land.
Der Fall wurde dann Chefsache. Über die Ermittlungen informierte der Justizminister, mehrere Hundert Zeugen vernahm die Polizei, sie riegelte das Dorf ab, untersuchte anhand von Handydaten, wer sich an Narins Todestag wo aufhielt. Das Ergebnis? Noch unklar, auch am Donnerstag vor Gericht. Die Staatsanwaltschaft jedenfalls fordert lebenslange Haft für den Onkel, den Bruder, den Nachbar und die Mutter. Wegen „vorsätzlicher Tötung eines Kindes in geheimer Absprache“.
Anfangs redete der Nachbar, der geschwiegen hatte. Narins Onkel habe es ihm gestanden: Er habe mit Narins Mutter eine Affäre gehabt, das Mädchen habe die beiden beim Sex gesehen. Da habe er sie erwürgt. Der Onkel, sagte der Nachbar, habe ihn mit einer Waffe bedroht, als er ihn anwies, die Leiche zu verstecken. „Er sagte, ich soll sie zerstückeln.“ Narins Mutter, sagte der Nachbar, habe währenddessen im Haus geweint.
„Gesteht endlich!“
Der Onkel? Stritt alles ab. Nannte den Nachbarn einen „wilden Mann“. Narin sei ein Engel gewesen, sagte der Onkel, der auch als Dorfvorsteher fungiert. „Wie könnte ich den Engel töten?“ Seltsam nur, dass er seine Whatsapp-Nachrichten des Tages gelöscht haben soll. Und dass offenbar die Handydaten zeigen, dass er nachts zu dem Fluss ging, wo die Polizei später die Leiche fand.
Die Mutter? Sagte: „Wie könnte ich meine eigene Tochter töten?“ Vorher hatte sie um einen Übersetzer gebeten, ihr Türkisch sei nicht sehr gut, sie würde gern auf Kurdisch aussagen. Wer es denn gewesen sei, fragte der Richter, wer ihre Tochter ermordet habe, der Onkel? Ob sie mit ihm eine Affäre gehabt habe? Nein, sagte die Mutter, niemals, sie sei treu. Als Mörder komme nur der Nachbar infrage.
Weshalb? „Er fürchtet Gott nicht.“
So klang die dörfliche Gesellschaft von Tavşantepe an diesem Donnerstag im Gerichtssaal. Für viele in der Türkei dürfte es eine Begegnung mit einer Zeit gewesen sein, von der sie gehofft hatten, sie sei vorbei. Ein Mädchen ist tot, und auf der Anklagebank wissen sie, wer es getötet hat. Vor Gericht reden sie jetzt, aber im Prinzip schweigen sie noch immer. Aus dem Publikum, so heißt es, habe jemand gerufen, es sei genug. „Gesteht endlich!“
Gegen 23 Uhr schloss der Richter die Verhandlung, am Freitag ging es weiter. Narins Vater musste unterdessen aus dem Saal ins Krankenhaus gebracht werden, er hatte einen Schwächeanfall erlitten.