Martin Lanig erinnert sich noch an diesen Abend vor mehr als zwölf Jahren. Er spielte damals beim 1. FC Köln in der Fußball-Bundesliga, es lief eher mittelprächtig, doch an diesem Tag gewann die Mannschaft, draußen in Müngersdorf, in diesem Stadion, das für diejenigen, die es mit dem FC halten, viel mehr ist als nur ein Stadion. Es ist Pilgerstätte und Zuflucht, und so wurde Lanig, als er nach dem Spiel ein Restaurant betrat, auf einmal von allen beklatscht, weil er den Menschen am Nachmittag einen Sieg geschenkt hatte. Einen Sieg schenken, so sehen das die Leute ja tatsächlich in Köln, wo Fußball etwas Persönliches ist.
Lanig lacht, als er die Geschichte erzählt. Schließlich war es ziemlich skurril, dass ihm die Leute beim Abendessen applaudierten. „Ich weiß gar nicht, ob alle wussten, warum sie eigentlich klatschen“, sagt Lanig, „mir war das ziemlich unangenehm.“
Ein Nachmittag in dieser Woche, Martin Lanig, 40, sitzt auf der Terrasse vor der Geschäftsstelle der Würzburger Kickers und hat einen guten Blick hinunter ins Stadion. Hier, am Dallenberg, hat er bislang zweimal an der Seitenlinie gestanden, seit er Ende September als neuer Trainer bei den Kickers eingestiegen ist. Für die ersten beiden Spiele, die er verantwortet hat, gab es keinen Beifall wie damals in Köln: 1:1 gegen den TSV Aubstadt, 1:1 bei der SpVgg Hankofen-Hailing. Zuletzt immerhin gelang ein 3:0 gegen den TSV Buchbach: Unter Lanig ist Würzburg zwar noch ungeschlagen, aber durch die beiden Unentschieden ist der Rückstand auf den Tabellenführer größer geworden – und der heißt auch noch FC Schweinfurt 05 und ist der ärgste Rivale der Kickers. Wie ordnet er, Lanig, die ersten Wochen also ein? Wie ist es bislang?
Lanig schnauft und lässt sich, wie er es bei den meisten Fragen tut, ein paar Sekunden Zeit, bevor er antwortet. Er wägt seine Worte ab, dann entgegnet er nicht etwa „gut“ – Lanig sagt: „Extrem anstrengend.“ Es koste ungemein viel Energie, so viele Menschen auf einmal kennenzulernen, Abläufe zu verstehen und sich einen Überblick zu verschaffen, sagt Lanig und erklärt dann, worum es ihm in seinen ersten Wochen in Würzburg vor allem geht. „Es ist ein Thema, aus der gegebenen Distanz Nähe zu schaffen“, sagt der 123-malige Bundesligaspieler. Er meint das Trainingsgelände auf der Sieboldshöhe, auf dem die Trainer-Umkleide gut 200 Meter von der Mannschaftskabine entfernt ist – und der Besprechungsraum ist wieder auf der anderen Seite. Das gilt es zu überwinden und zusammenzurücken, auch und gerade im übertragenen Sinne.
Die Rothosen, wie sich die Kickers nennen, sind zuletzt ja ein wenig grauer geworden in den Augen der Menschen. Zwar noch nicht so grau wie der Strickpullover, den Lanig an diesem Nachmittag auf der Terrasse trägt, aber eine gewisse Abkapselung ist eben doch auszumachen. Die Fans ziehen sich zurück, vorige Woche gegen Buchbach kamen nur noch 1060 – so wenig wie seit den Corona-Zeiten nicht mehr.
In der vergangenen Saison marschierten die Kickers noch durch die Regionalliga, bevor sie dann in den Aufstiegsspielen an Hannover II scheiterten. Wobei: Es war eher ein Spazieren als ein Marschieren, denn die Auftritte der Mannschaft hatten etwas Leichtes an sich, etwas Lockerluftiges, auch etwas Hoheitliches, das in dieser Saison bislang kaum zu erkennen ist. Im Vorjahr spielte Würzburg derart mitreißend, dass im Schnitt fast 2500 Leute zu den Spielen kamen – inzwischen sind es mitunter nicht mal halb so viele.
Nähe und Distanz, es ist ein großes Thema, mit dem Lanig in seinen ersten Wochen zu tun hat. Wenn es den Kickers nämlich nicht mehr gelingt, die Leute abzuholen, verliert alles an Wert und Sinn. Viele in der Stadt haben sich abgewendet, obwohl diese Saison doch, wie es oft heißt, die letzte Chance sei, die dem Verein noch bleibt. Gelingt der Aufstieg auch in diesem Jahr nicht, könnten sich noch mehr Fans zurückziehen, Sponsoren die Geduld verlieren und auch Spieler eher zu Klubs gehen, die ihnen mehr Planungssicherheit bieten können. Was macht das also mit Lanig, dass er jetzt so etwas ist wie die letzte Rettung?
Lanig stutzt, dann sagt er: „Ich konzentriere mich auf das, was ich beeinflussen kann – und das ist die Arbeit mit der Mannschaft.“ Er hat bis 2026 unterschrieben, und wenn der Aufstieg nicht im ersten Anlauf gelingt, nimmt er eben einen zweiten mit den Kickers. Ist ja nicht so, dass sie den Spielbetrieb auf dem Dallenberg einstellen würden, nur weil sie noch ein viertes Regionalliga-Jahr dranhängen müssten. Und Druck? Druck kennt Lanig sowieso. Er hat für den VfB Stuttgart gespielt, für Köln, für Eintracht Frankfurt, große Klubs, die immer unter dem Brennglas stehen. So gesehen weiß er, wie mit Druck umzugehen ist.
Lanig ist ein Analytiker, der genau abwägt, bevor er Entscheidungen trifft
Trainer ist zwar etwas anderes als „nur“ Spieler, doch der Weg, der hinter ihm liegt, hat ihm etwas gegeben, das ihn heute ausgesprochen unaufgeregt daherkommen lässt. Lanig ist ohnehin kein Lautsprecher, keiner für großspurige Ansagen, eher ein Analytiker, der genau abwägt, bevor er Entscheidungen trifft – und sei es nur, wie er eine Frage beantwortet. Lanig ist ein Schachspieler, ohne tatsächlich Schach zu spielen, eher Golf, aber momentan geht es für ihn nur um Fußball.
Martin Lanig stammt aus Lauda-Königshofen, gut eine halbe Autostunde entfernt von Würzburg. Mit den Kickers will er den Menschen vor seiner Haustür wieder Profifußball bescheren. Die Zeit drängt, doch Lanig bleibt ganz ruhig. Und wenn ihm der Aufstieg tatsächlich noch gelingen sollte, könnte es wieder Beifall geben – möglicherweise sogar in einem Restaurant.