
Somaya Moniry beginnt ihre Tour vor einer unscheinbaren hellblauen Haustür in einer Stadt irgendwo in Afghanistan. In der Turnhalle dahinter haben sich zwanzig junge Frauen zum Training versammelt. Sie tragen weiße Taekwondo-Anzüge und schwarze Kopftücher, manche auch schwarze Gürtel. An ihrer Körperspannung kann man sehen, dass sie den Sport schon eine ganze Weile betreiben. Zu afghanischer Popmusik wärmen sie sich auf.
Die afghanische Trainerin gibt Anweisungen auf Koreanisch. Bei jedem Tritt, den die Frauen üben, stoßen sie Kampfschreie aus. So laut, dass es den Nachbarn kaum verborgen bleiben dürfte. „Afghanistan wird immer nur durch die Linse der Politik betrachtet“, sagt Moniry. „Aber das tägliche Leben ist anders. Das will ich zeigen.“
Moniry ist Reiseführerin. Sie organisiert Afghanistan-Touren nur für Frauen – mit Wissen und Einverständnis des Tourismusministeriums in Kabul. Die Taliban-Regierung fördert den Tourismus. Ausländische Touristen bringen dringend benötigte Devisen ins Land. Und sie sollen helfen, den schlechten Ruf der Islamisten aufzubessern.
Ausländer und explizit auch Ausländerinnen werden schon am Flughafen auf Englisch mit den Worten „Willkommen in Afghanistan“ begrüßt. Nach der Passkontrolle müssen sie sich allerdings am Schalter des Geheimdiensts registrieren.
Das Taekwondo-Training ist eine von Monirys Sehenswürdigkeiten. „Ich will das Leben jenseits der Medienwirklichkeit zeigen. Ohne Filter“, sagt sie. Das Kampfsportteam wurde vor zwölf Jahren von einem koreanischen Trainer aufgebaut. Damals gehörte Frauensport noch zu den Dingen, die von der internationalen Gemeinschaft besonders gefördert wurden. Boxerinnen und Fußballerinnen wurden zum Symbol einer neuen Zeit.
Als die Taliban vor fast vier Jahren die Macht übernahmen, verließ der koreanische Taekwondo-Trainer das Land. Eine seiner Schülerinnen, Khadija, übernahm die Gruppe. „Ich habe so viel in den Kampfsport investiert, dass ich unter allen Umständen weitermachen will“, sagt sie. Um die Matten für die Halle zu finanzieren, habe sie ihren Schmuck verkauft. „Es ist meine Leidenschaft.“
Eigentlich haben die Taliban Mädchen- und Frauensport verboten. Das Taekwondo-Training ist eines von vielen Beispielen dafür, dass sich Frauen in Afghanistan trotz aller Verbote Freiräume erkämpfen oder schlicht unter dem Radar bleiben, weil der Staat nicht alles kontrollieren kann. Vielleicht ist es auch ein Beispiel dafür, dass nicht alle Taliban-Funktionäre mit den Verboten ihres Anführers Haibatullah Akhundzada einverstanden sind. Es ist nicht ohne Risiko, Touristinnen hierherzubringen, die auf Facebook und Instagram über ihre Erlebnisse berichten. Aber Khadija findet es wichtig. „Es gibt den Mädchen Hoffnung, wenn andere ihre Fähigkeiten sehen.“ Der Satz drückt ein Gefühl aus, das im Moment viele Frauen in Afghanistan umtreibt: die Angst, von der Welt vergessen zu werden.
Frauen dürfen unter den Taliban keine Parks besuchen
Die Touristentour geht weiter. Als Nächstes steht ein bedeutender Heiligenschrein auf dem Programm. Mittwochs und donnerstags ist dort Frauentag. In dem Schrein soll ein Nachfahre des vierten Imams begraben sein, der von den Schiiten verehrt wird. Die Besucherinnen küssen das goldene Gitter, das den Sarg umgibt. Die Atmosphäre ist familiär. Eine Frau gibt ihrem Kind die Brust. Manche lesen im Koran, andere sitzen in Gruppen zusammen und plaudern.
Außerhalb des Schreins kochen Frauen in einem Ofen und verteilen die Gerichte an die Armen. „Sie hoffen, dass dadurch ihre Wünsche in Erfüllung gehen“, erklärt Moniry. Es gibt nur noch wenige öffentliche Orte, an denen Frauen so ungezwungen zusammenkommen können, denn der Zugang zu Freizeitparks und selbst vielen gewöhnlichen Parkanlagen ist ihnen untersagt.
Danach geht es auf den Markt. Viele Frauen sind zum Einkaufen unterwegs. Die meisten tragen eine Corona-Maske zum Kopftuch, weil das im vergangenen Jahr in Kraft gesetzte Tugendgesetz eine Bedeckung des Gesichts verlangt. Burkas sieht man in diesem Teil des Landes dagegen kaum. Auch unter den Verkäufern findet man einige Frauen, vor allem in einem Abschnitt, der mit Geldern der Vereinten Nationen gebaut wurde. Dort können Frauen Stände zu vergünstigten Preisen mieten, erklärt Reiseführerin Moniry. Früher gab es auch in der lukrativen Hauptgasse Verkäuferinnen. Doch die Marktverwaltung hat sie auf die hinteren Plätze verbannt.
In sozialen Medien veröffentlichen Besucher Videos von beeindruckenden Landschaften. Sie schwärmen von der Gastfreundschaft der Afghanen. Und schreiben, dass das Land ganz anders sei, als von den westlichen Medien dargestellt. Vor allem viel sicherer. Das Leid der Frauen, deren Bildungs- und Berufskarrieren die Taliban zerstört haben, sieht man nicht auf den ersten Blick.

Somaya Moniry hatte ihr Studium der Informationstechnologie schon selbst abgebrochen, bevor die Universitäten im Dezember 2022 für Frauen geschlossen wurden. „Ich fand die Ausbildung nicht professionell. Meine Universität war Youtube“, sagt sie. Sie habe sich das Programmieren und die englische Sprache selbst beigebracht. „Das hat für mich gut funktioniert und dazu geführt, dass ich nicht vom staatlichen Bildungssystem abhängig war.“
Sie kenne viele Frauen, die wütend seien wegen des Bildungsverbots. „Ich versuche, positiv zu bleiben.“ Natürlich sei sie mit Einschränkungen konfrontiert, aber sie versuche, sie zu umgehen. In den sozialen Medien, erzählt sie, werde ihr vorgeworfen, mit dieser Haltung die Herrschaft der Taliban zu beschönigen.
Die ausländischen Touristinnen, die Moniry führt, dürfen Nationalparks und Sehenswürdigkeiten besichtigen. Afghaninnen dürfen das nicht. Zur Zitadelle von Herat, die mehr als 2000 Jahre alt ist, haben einheimische Frauen zum Beispiel keinen Zutritt. Das gilt auch für den wunderschönen Garten des Mogulherrschers Babur in Kabul aus dem 16. Jahrhundert und für das nahe gelegene Nationalmuseum. Die Verbote werden damit begründet, dass es unschicklich sei, wenn Frauen und Männer sich am selben Ort vergnügten. Warum das für Ausländerinnen nicht gilt, wird nicht erklärt. Fragt man im Tourismusministerium, warum es keine Frauentage gibt, bekommt man ausweichende Antworten.
8414 ausländische Touristen im Jahr 2024
Auch den Qargha-Stausee, ein beliebtes Naherholungsgebiet im Westen Kabuls, dürfen Frauen offiziell nicht besuchen. Trotzdem findet man hier jeden Abend Familien beim Picknick. Die Sittenwächter in ihren weißen Kitteln kommen meist nur freitags und schicken die Frauen samt Ermahnungen nach Hause. Auch Moniry wurde schon einmal mit einer ausländischen Touristin vom Qargha-See vertrieben. „Wir sind einfach anderswo hingefahren“, sagt sie.
Eigentlich dürfte sie als Frau gar nicht ohne männlichen Verwandten in andere Provinzen reisen. Aber bislang hat sie daran offenbar niemand gehindert, nicht einmal in Kandahar, dem erzkonservativen Machtzentrum des Landes, das sie bisher zweimal mit Touristinnen besucht hat.
Nach Angaben des Tourismusministeriums haben im vergangenen Jahr 8414 ausländische Touristen Afghanistan besucht – eine deutliche Steigerung nach 2300 im Jahr 2022 und 7000 im Jahr 2023. In der Tourismusbehörde der westafghanischen Stadt Herat erklärt ein Mitarbeiter die Zahlen so: Vor der Machtergreifung der Taliban hätten die Leute wegen des Kriegs Angst gehabt zu kommen. Nun herrsche Frieden und man könne ohne Sicherheitsbedenken in alle Landesteile reisen. Die ersten Touristen hätten in sozialen Medien und gegenüber Freunden von ihren Erlebnissen erzählt. Deshalb wachse die Zahl der Besucher stetig an.
Stolz berichtet der Mitarbeiter, dass im vergangenen Jahr Menschen aus 70 Ländern die Stadt Herat besucht hätten. „Sogar aus Ländern, von denen wir noch nie gehört haben“, sagt der Mann, der schon zur Zeit der international unterstützten Vorgängerregierung für die Behörde gearbeitet hat.

Neben Herat gehört Bamiyan zu den meistbesuchten Städten des Landes. Dort sind die Überbleibsel der Buddha-Statuen zu sehen, die von den Taliban 2001 in einem radikalislamistischen Furor gegen vermeintliche Götzenverehrung zerstört wurden. Heute verdienen die Islamisten Geld mit den Eintrittskarten zu dem Weltkulturerbe. Als ein Journalist der „New York Times“ den zuständigen Leiter der Tourismusbehörde von Bamiyan kürzlich nach diesem Widerspruch fragte, entgegnete dieser nur: „Nächste Frage.“
Im Nationalmuseum in Kabul kann man sehen, wie weit zu gehen die Taliban bereit sind, um sich gegenüber Touristen in einem positiven Licht zu präsentieren. Auf einer Informationstafel zu den buddhistischen Stätten des Landes steht der bemerkenswerte Satz: „Das buddhistische Erbe Afghanistans ist auch ein bedeutender Teil unserer Geschichte.“ Mehr als tausend Jahre lang sei Buddhismus in Afghanistan praktiziert worden. Dazu gibt es eine Ausstellung von Ausgrabungsobjekten aus dem früher bedeutenden buddhistischen Kloster in Mes Aynak.
Allerdings gibt es zu der englischsprachigen Informationstafel keine Entsprechung in den Landessprachen. In der Ausstellung werden Schalen und Schmuck gezeigt, aber keine Buddhafiguren, was vermutlich kein Zufall ist. Ein Poster einer Buddhastatue endet an ihrem Hals.
Ausländer sind hier eine große Sache
Die Reiseleiterin Somaya Moniry ist über das Couchsurfing zu ihrem Job gekommen. Sie hat schon zahlreiche Ausländer beherbergt, die sie über die Couchsurfing-App kontaktiert haben. Von ihnen erfuhr sie, was ausländische Reisende an Afghanistan interessiert. Durch sie kam sie mit dem Tourismusministerium in Kontakt, bei dem sich jeder Reisende in jeder Provinz neu anmelden muss.
Vor drei Jahren hatte Moniry ihre ersten Couchsurfer zu Besuch. Ein Pärchen, er aus Australien, sie aus Polen. Sie waren vorher durch Iran gereist. „Meine Familie hatte bis dahin noch nie mit einem Ausländer gesprochen.“ Die ganze Nachbarschaft sei gekommen, um sie zu sehen. „Das war eine große Sache“, sagt Moniry und kichert.
Die Vorstellung, dass Ausländer ihr, einer Fremden, so sehr vertrauen würden, dass sie sogar in ihrem Haus schlafen, faszinierte sie. Die Ausländer, die sie bis dahin gesehen hatte, wohnten und arbeiteten hinter hohen Betonmauern und fuhren in Landcruisern durch die Stadt.
Im Afghania-Gästehaus in Kabul bekommt man einen Eindruck davon, welche Art von Menschen es nach Afghanistan verschlägt. An einem Wochenende im April wohnen dort 13 Ausländer: ein 40 Jahre alter Franzose, der in Paris ein Bildungsinstitut leitet. Er hat es sich zur Aufgabe gemacht, alle Länder der Welt zu bereisen. Nach Afghanistan fehlen ihm nur noch drei.
Ein junges rumänisches Pärchen, das auf Motorrädern unterwegs ist und einen Monat lang in einem Hilfsprojekt in Kandahar ausgeholfen hat. Zwei deutsche Abenteurer auf Fahrrädern, für die Afghanistan eine von mehreren Stationen ist. Ein älterer Italiener, der an Parkinson leidet. Eine chinesische Fotografin aus Shanghai mit ihrer Mutter, die in Moldau beruflich zu tun hatte und dann ins iranische Maschhad flog, weil der Flug dorthin billig war. Von dort war es nicht mehr weit bis zur afghanischen Grenze.
Eine Gruppe von fünf weltgewandten Vietnamesinnen, die sich über Facebook gefunden haben und in Sammeltaxis durchs Land reisen. Eine der Frauen will das Dorf ihres afghanischen Studienfreunds in der Provinz Ghazni besuchen. Beide haben in Australien studiert. Wie es der Zufall will, hat sie Moniry als Reiseleiterin angefragt. „Somaya ist auf Facebook eine Berühmtheit“, sagt sie.