

Das Abenteuer beginnt gemächlich in Holwert. 50 Minuten dauert die Überfahrt mit der Fähre nach Ameland, die Sonne scheint, glatte See, alles ganz entspannt. Das Auto blieb auf dem Festland, der Alltag auch. Unser erster Weg führt stracks zu Kiewiet, einem von einem halben Dutzend Fahrradverleihern auf der Insel. Der Fietsverhuur liegt bloß ein paar Gehminuten vom Fähranleger entfernt und kümmert sich obendrein ums Gepäck. Praktisch. Wir mieten ein Pedelec und rollen ein Stück die Straße runter zum Tourismusbüro VVV, versorgen uns mit Landkarte und Ausflugstipps – und das Abenteuer nimmt Fahrt auf.
Ameland hat gerade mal 3800 Einwohner, verteilt auf die vier Hauptdörfer Ballum, Buren, Hollum und Nes. Und es gibt nur einen Tonio auf Ameland, wie er lachend sagt. Tonio ist Wattführer. Wer ihm am Deich bei Hollum ins Watt folgt, muss Gummistiefel oder festes Schuhwerk tragen, denn manch tiefer Morast saugt erstaunlich stark an losen Schuhen, und barfuß geht gar nicht, es lauern scharfe Schalen im Schlick.
Wir sind ein bisschen früh dran heute, erklärt Tonio seinen Schützlingen, es ist noch Wasser im Watt, aber es wird schon gehen, beruhigt er und stapft voran mit Kescher und Grabgabel. Die kleine Gruppe, elf Erwachsene und Kinder, hinterdrein. Es quutscht und quatscht, aber es trägt. Für die nächsten anderthalb Stunden nimmt uns das Wunder Watt gefangen. Tonio erzählt spannend auf Niederländisch und Deutsch, gräbt im nassdunklen Boden und fördert kleine Würmchen und allerlei Muscheln zutage. Die Kinder tippen sanft an die anmutige kleine Strandkrabbe und staunen über das Hörnchen, das die Pantoffelschnecken bilden, wenn sie sich zum Paaren übereinanderstapeln. Wer wissen will, woran sich Miesmuscheln festhalten und warum es ohne Seetang keine Menschen gäbe – Tonio weiß es.
Wattwandern macht hungrig. Wenige Radminuten entfernt, im hübschen Ballum mit seinen 350 Einwohnern, betreiben Fabian und Annelies das Eetcafé De Boerderij, ein auf moderne Art uriges und urgemütliches Bauernhof-Restaurant. Tipp: Minigerichte zum Probieren und Teilen. Wer Knoblauch mag, wird die Muschelpfanne lieben.
Wir radeln wieder von Nes gen Westen. Unser Ziel: der ikonische Leuchtturm vor der Sandbank Bornrif. 55 Meter misst er mitsamt der acht Meter hohen Lichtkuppel – und ist namenlos. Der Leuchtturm halt. 1880 erbaut, seit dem 1. Januar 2005 außer Dienst, heute eine Touristenattraktion. 236 Stufen führen 15 Stockwerke hoch – und die wollen wir jetzt rauf. Der Rekord im Leuchtturmtreppensteigen beträgt übrigens 48,06 Sekunden! Die Stiegen sind steil und schmal, den Treppenlauf unterbrechen Etagen, auf denen man ausruhen und entdecken kann – etwa den lebensgroßen Taucher mit kolossalem Helm und bleischweren Stiefeln. Oder Filme, Fotos, Schautafeln und Vitrinen, die von diesem und anderen Leuchttürmen erzählen, von seiner Geschichte, von Küstenwächtern und Seenotrettern. Die Wattfotografen Anja Brouwer und Rinnie Wijnstra stellen Foto-Kunstdrucke der Ameländer Natur aus – allein dieses Fest an Farben und Licht ist den Aufstieg wert. Bis zur Leuchtturmwärterkabine, in der André Ruygh, der letzte „vuurtorenwachter van Ameland“, 25 Jahre lang über die Küste wachte, sind es freilich noch ein paar Treppen. Endlich, die oberste Plattform, der Ausstieg ins Freie – und ein umwerfendes Panorama.
Vom Leuchtturm aus kann man das Rad einfach rollen lassen. Bis hinein nach Hollum, zu Tante A’n (mit Apostroph!), dem, so heißt es, gemütlichsten Restaurant auf Ameland. Broodjes und mehr sind aus regionalen Produkten gemacht. Eet smakelijk!
Am Nachmittag warten Piet van Tuinen und sein Strandexpress am Strand von Nes, gleich am Restaurant-Pavillon Sjoerd, auf Mitfahrer – unübersehbar: ein Bilderbuch-Friese mit markantem Hut vor einem bulligen roten Traktor mit angekoppeltem Passagier-Waggon. Amelands Sandstrand ist nicht nur bemerkenswert sauber, sondern auch unendlich lang. Er misst 27 Kilometer und erstreckt sich bis weit hinter Buren in den Osten der Insel in die Naturschutzgebiete Oerd und De Hôn – und die steuert Piet mindestens von Ostern bis Oktober, mitunter sogar bis in den Januar hinein an. Hin und zurück eine rund zweieinhalbstündige Fahrt, die der junge Piet im Sommer 1979 das erste Mal unternommen hat. Viel hat sich seither verändert, erzählt er beim Stopp auf Oerd. Wind, Wellen und Gezeiten prägen die Landschaft mit ihren beeindruckenden Dünen, manche 20, die höchste gar 24 Meter hoch. Eine grandiose Aussicht.
Weiter fahren uns Piet und sein Express nach De Hôn, abgeschieden gelegen an der Grenze zwischen Nordsee und Wattenmeer, wo die Strömungen zusammenlaufen und die Landschaft unablässig weiter formen. Piet erzählt voller Leidenschaft von Dünen, die wachsen, von Salzwiesen, die sich langsam ausdehnen, von Pflanzen, die Dünen besiedeln und Vögeln, die wieder hier brüten. Dann geht’s zurück nach Nes.
Das Bravo, wenige Meter den Strandweg hinunter, ist ein Strandclub mit betont ungezwungener Atmosphäre und ambitionierter Küche, die auf lokale Produkte setzt. Rindfleisch etwa stammt von Hereford-Rindern, die im Vennoot grasen, einem nicht eingedeichten Gebiet. Die Rinder kann man vom Radweg aus sehen. Kein Wunder, dass Dry-Aged-Steaks oder „Friesisches Wagyu“ vom Holzkohlegrill hier weggehen wie anderswo warme Semmeln.
Morgens halb neun auf Ameland, Zeit fürs „Blokarten“ bei Nes, eine Kombination aus Windsurfen und Go-Kart fahren. Jesse von Ameland Adventures macht die Strandsegler klar, dreirädrige Buggys mit einem Sitz flach wie eine Sonnenliege, einem Fahrradlenker und einem Seil – und einem mehr als mannshohen Segel. Sein Kollege Nik markiert unterdessen mit Pylonen einen Übungskurs. Alles ganz einfach, behauptet er, während wir unters Segel kriechen, den Po nur Zentimeter über dem Sand. Mit dem Lenker lenken, mit dem Seil das Tempo bestimmen – fest anziehen strafft das Segel und der Wind schiebt uns voran. Locker lassen bei Flaute, wieder den Wind einfangen, langsam immer straffer ziehen, rät Nik. Der Wind bläst schräg, treibt den Buggy auf das Meer zu. „Ganz eng um die Pylone fahren!“, ruft Nik – wir fliegen um die Kurve, das Segel schwenkt herum, ein Hinterreifen hebt sich kurz. Uff. Wir sind zu dritt heute Morgen, und nach und nach werden wir mutiger, die Bögen größer, die Buggys schneller. Man hört Juchzen und Lachen, ach komm, eine Runde noch – wie, schon Schluss? Viel zu schnell vorbei ist die Stunde.
Strandsegeln, erklärt Jesse, kann man fast das ganze Jahr hindurch. Auch in größeren Gruppen. Man kann aber auch von erfahrenen Instrukteuren Surfen lernen, Bogenschießen, Powerkiten, Kajakfahren. Sage noch einer, Inselurlaub sei langweilig.
Es ist noch nicht Mittag, aber Sjoerd hat schon auf. Der Pavillon steht auf Stelzen am Strand, mit riesigen Fensterfronten für den Erste-Reihe-Blick aufs Meer. Hier lässt sich prima Zeit verbringen, auch wenn die Nordsee es mal rauer meint. Vor allem, wenn man einen Platz in der Sofa-Ecke rund um den stylishen offenen Kamin ergattert.
Am Nachmittag radeln wir zum Hafen. Die WL35 Brakzand, das ehemalige Postschiff, geht auf Fahrt zu den Robbenbänken. Unterwegs lässt Matrose Bernard das Schleppnetz ins Wasser. Und gleich wird er es wieder einholen. Die Passagiere, kleine wie große, drängen erwartungsvoll um ein fast hüfthohes, u-förmiges Wasserbecken. Das Netz wickelt sich hoch, Bernard schüttelt alles, was bislang unter der Meeresoberfläche verborgen war, in einen Bottich und leert ihn sachte in das flache Becken. Was nun kommt, ist große Unterhaltung: Bernard erklärt mit Charme und Witz, woran man bei dieser Krabbe (hält sie hoch) erkennt, ob sie ein Männchen oder ein Weibchen ist. Warum der kleine Fisch mit dem weißen Bauch Wittling heißt. Was es auf sich hat mit Ebbe und Flut und warum das Wattenmeer immer gleich und doch jeden Tag anders ist. Die Augen der Kinder strahlen, wegen Bernard werden viele einmal Meeresbiologin oder Seemann werden wollen, so viel ist sicher. Natürlich auch wegen der knuffigen Robben, die unversehens schon recht nah sind, dort drüben auf der Sandbank. Die Brakzand macht die Motoren aus, auch wir Passagiere, rät Bernard, sollen besser leise sein. Klappt nicht so ganz, ein paar Kinder kieksen begeistert. Den Robben ist das zum Glück egal, eine schwimmt gar unter großem Hallo bis fast ans Schiff heran und schaut neugierig.
Nach zweieinhalb Stunden ist die Brakzand wieder im Hafen. Kiewiet bekommt sein Bike zurück, wir unser Gepäck, ein wenig Zeit ist noch, bis die Fähre ablegt. Also hinein in „The Harbour“, das legere Hafenrestaurant mit Blick aufs Wattenmeer – von jedem Platz aus. Auch ein Blickfang: die enorme Bar, dazu chillige Musik, auf der Karte Mexikanisches wie Fajitas, Enchiladas, Tacos. Sage noch einer, die Niederländer könnten nur Kibbeling.
Die Reise wurde unterstützt von visitwadden.nl.
