Tiere: Die Möwe, das sind wir

In der Reihe „Die Pflichtverteidigung
ergreifen wir das Wort für Personen, Tiere, Dinge oder Gewohnheiten,
die mehrheitlich kritisiert und abgelehnt werden. Dieser Artikel ist
Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 32/2025.

Es
gehört zur Unverschämtheit des Menschen, dass er die Natur anblickt und
Liebreiz von ihr verlangt. Besonders heftig befällt ihn diese Erwartung im
Urlaub, wenn er, ermattet von den Strapazen der Lohnarbeit, selbstergriffen
glaubt, dass sich die Welt wenigstens einige Wochen lang endlich nach seinem
Willen formt. Dann liegt er, allmählich wolfgangkubickifarben, am Strand oder
starrt das Wasser an, und irgendwann stapft er zum Imbiss, wo ihn bald
„eine harte Stimmung darbender Räuberei“ umgibt. Zumindest, wenn es
nach Thomas Mann geht. Die Möwen sind schließlich schon da. Und die Vögel sind
ein zuverlässiger Grund zur Beschwerde, zumal in Deutschland.

Man
muss nur in die Archive schauen: Schon vor Jahren kam es zum
„Möwenkrieg“ in Wilhelmshaven, man hörte von
„Möwenproblemen“ in Flensburg, erst kürzlich las man von der
„Möwenplage“ auf Sylt, natürlich voll mit von Ausrufezeichen
subventionierter Wut. Und die Klageanlässe sind immer ähnlich: Meist geht es um
entwendete Fischbrötchen oder gekaperte Pommes, verschmutzte Autos, Dächer und
Multifunktionsjacken und die Lautstärke, weil es in Deutschland meistens um die
Lautstärke geht, wobei Möwen ja selten nachts um zwei noch Wonderwall
auf der Akustikgitarre spielen, und Gigi D’Agostino in allen drei Strophen
singen sie auch nicht, das sind sie Inselurlaubern ohnehin voraus.

Dass
der Mensch in Strandnähe nicht ungestört Mensch sein kann, wirft er dennoch
keinem Tier so vehement vor wie der Möwe, weshalb manche Gemeinden immer wieder
über Gift und Gewehre diskutieren, sie müssen sehr verzweifelt sein. Dabei ist
es ja nahezu unmöglich, eine Möwe anzusehen und nicht an das Komödiantische der
Welt zu denken. Stehen da wie strenge Flottenadmiräle a. D., sitzen auf Pollern,
weil sie nun einmal auf Pollern sitzen, und schauen skeptisch auf das öde Werk,
das der Mensch sich selbst errichtet hat: gepflasterte Strandpromenaden,
abschließbare Strandkörbe, All-inclusive-Hotels und Geländewagen ohne Gelände.

Eine
Freude sind Videoaufnahmen aus Urlaubsorten, in denen unschuldsweiße Möwen
Strandsupermärkte betreten, sich umgucken und Chipstüten aus dem Regal nehmen,
natürlich ohne zu bezahlen. Planung, Durchführung, Flucht – Möwen könnten jeden
Ocean’s-Eleven-Film schlecht aussehen lassen, und wenn man ehrlich ist,
sogar George Clooney persönlich: „Man wußte nicht, ob man die ungemeine
Reinheit, Zartheit und einfache Schönheit ihres Gefieders und ihrer Farben oder
die außerordentliche Mannigfaltigkeit und Zierlichkeit (…) dieser Vögel
bewundern“ solle, schrieb einst der Ornithologe Friedrich Goethe ganz
verliebt und hatte natürlich absolut recht. Goethe erwähnte dabei nicht einmal
die glamouröse kriminelle Energie, das amüsante, subversive Verhältnis zum
Eigentum, mit dem die Möwe den Menschen täglich triezt, der natürlich auch sich
selbst in ihr erkennt: Sie drängelt sich vor, besitzt eine ausgeprägte
Schnäppchenmentalität, und interessiert sich für die Premiumplätze in
Wassernähe. Streng genommen waren Möwen dort eh zuerst.

Besonders
schwülstige Geister sagen manchmal, wir hätten diese Welt ja nur geliehen,
sagen aber nie, von wem eigentlich. Am Strand ist klar: von den Möwen. Weshalb
es in Wahrheit nicht darum gehen kann, wie sich der Mensch mit der Möwe,
sondern die Möwe mit dem Menschen arrangiert. Folglich sollten Karl und Susi ihr
öfter mal eine Extrapommes mitbestellen, vielleicht ein Krabbenbrötchen
spenden, möglicherweise auch beides zusammen als kleines Appeasementangebot,
wobei man sich allerdings nicht mehr erwischen lassen darf. Füttern ist ja
leider verboten. Das ist im Übrigen der eigentliche Skandal.