
Auf den ersten Blick ist Piesport bis heute das idyllische Mosel-Dorf aus Schanz’ Kindheit. Doch seit dem 9. März 2022 hat sich hier etwas verändert. Beschaulich ist der Ort noch immer, aber er spielt plötzlich auf der kulinarischen Weltkarte ganz oben mit; wenn der Chef hier solche Vollmundigkeiten nicht ablehnen würde, könnte man sogar sagen: in einer Reihe mit Stockholm, Rom oder Berlin, die alle ebenfalls ein Drei-Sterne-Restaurant haben. Denn der Koch und Winzersohn Thomas Schanz, 45, bekam an jenem Tag den dritten Michelin-Stern verliehen. Noch am selben Abend brach ein Reservierungs-Sturm über das Restaurant „Schanz“ herein: „Die ganze Familie war im Einsatz, teilweise wurden drei Telefone gleichzeitig angenommen.“ Innerhalb von zwei Tagen war das Restaurant für ein Dreivierteljahr ausgebucht. „Es war großartig, aber auch chaotisch“, erinnert sich Schanz. „Wir waren auf einen solchen Ansturm nicht vorbereitet.“
Doch ganz so überraschend, wie Schanz es darstellt, kommt so eine Auszeichnung dann auch nicht. Wer den Werdegang des Kochs verfolgt hat, konnte erleben, wie sich da jemand ruhig, überlegt und fokussiert ganz nach oben arbeitete. Bereits ein Jahr zuvor hatte der Restaurantführer Gault & Millau Thomas Schanz zum „Koch des Jahres“ gekürt. Der Unterschied zu manch anderen erfolgreichen Köchen ist vielleicht, wie leise er mit Ehrungen und Ehrgeiz umgeht. Ja, sagt er zögernd, es stimme schon, dass mit dem dritten Stern „ein ganz großer Traum in Erfüllung ging“, überrascht gewesen sei er trotzdem, als es passierte, beharrt er. Man glaubt ihm das.

Schließlich war ihm selbst lange nicht mal klar, dass er überhaupt Koch werden würde. Er hat Hotelfachmann gelernt, war glücklich in dem Job. Sein Chef sah ihn „irgendwo im Management“, riet ihm aber dazu, erst eine Kochausbildung dranzuhängen, um auch dieses Feld als Gastromanager später beurteilen zu können. „Er hat damals sogar meine Bewerbung ausgearbeitet. Und als ich dann in der Küche stand, wurde mir klar, dass ich nichts anderes machen wollte als kochen.“
Und so richtig verändert scheint ihn sein Aufstieg unter die besten Köche der Welt nicht zu haben, auch wenn nun schon mal ein Gast aus Hongkong für eine Nacht einfliegt, nur um bei Schanz zu essen. Nach wie vor kocht der Chef in Piesport zum Beispiel selbst den Fisch- und Fleischposten in der Küche, auf diesem Niveau absolut ungewöhnlich. Warum macht er das? Wieso delegiert er nicht? „Weil ich es einfach gerne mache.“ Warum also sollte man das unnötig zerdenken? Und wenn der Chef die beiden wichtigsten Posten in der Küche weiter selbst kocht, hat das auch angenehme Nebeneffekte: Das Ergebnis wird jedes Mal so perfekt, wie er es haben will. Und außerdem bleibt Schanz auf diese Art wenig Zeit, an den Restaurant-Tischen die Runde zu machen und sich feiern zu lassen. Es wäre auch nicht seine Art.
Welches das beste Drei-Sterne-Restaurant in Deutschland ist, darüber gibt es zum Glück sehr unterschiedliche Meinungen, aber eins steht fest: Das mit Abstand unaufgeregteste liegt in Piesport. Stimmt diese Einschätzung? Ja, sagt er da, allerdings heiße das nicht, „dass es im Hintergrund nicht aufregend ist“.
Das „Schanz“ ist ein Restaurant irgendwo im Nirgendwo
Am liebsten lässt der Koch hier seine Teller für sich sprechen. Ob Thunfischbauch-Cannellono mit Blumenkohlcreme und Forellenkaviar oder kalt soufflierte Gazpacho, belegt mit Oliven, gefüllt mit Kalbstatar und begleitet von Zitronen-Colatura-Sorbet – schon die ersten Kleinigkeiten belegen, wie meisterhaft Schanz Aromen zu kombinieren versteht. Ein inzwischen berühmt gewordener Beweis dafür ist sein legendäres Trüffelei, in dem gleich mehrere Périgord-Trüffel-Zubereitungen auf engstem Raum eine minutiös abgeschmeckte Verbindung eingehen, sozusagen der potenzierte Trüffelgenuss.

Selbst Foie gras, oft mit Süße und Schwere assoziiert, ist in der Piesporter Version überraschend anders: Sie kommt geschichtet und tatsächlich vom Mundgefühl geradezu leicht daher, dank der knusprigen Texturen von karamellisiertem Filoteig und kräutrigen Noten, die ebenfalls Schwerelosigkeit vermitteln. Dazwischen packt Schanz klassische Terrine und Gänselebereis mit fermentiertem Pfeffer im Wechsel mit fünf Jahre gereiftem Gouda, Aniscreme und – für die Frische – den zitrischen Aromen von Pampelmuse und Blutorange. Im Glas gibt es dazu keinen schweren Süßwein, sondern eine leichtfüßige und doch aromenstarke Riesling-Spätlese vom nahen Weingut Reinhold Haart – als Hommage an die Paradelage Piesporter Goldtröpfchen.
Das lichte Restaurant ist so zeitgemäß wie unaufdringlich eingerichtet, die Rückwand mit Moselschiefer verkleidet, ausgeklügelt platzierte Lichtkegel leuchten die Tische perfekt aus, als Gast fühlt man sich wohl, ohne genau sagen zu können, warum das so ist, alles hier wirkt irgendwie selbstverständlich. Und doch war lange Zeit nicht ausgemacht, dass Thomas Schanz eines Tages in die kleine Welt von Piesport zurückkehren würde. Sein Handwerk lernte er in den besten Häusern: Nach der Ausbildung in der Traube Tonbach im Schwarzwald kochte er zwei Jahre bei Klaus Erfort in Saarbrücken und sechs Jahre bei Helmut Thieltges im nahen Dreis, beides damals Drei-Sterne-Restaurants. „Ich habe dort alles aufgesaugt, was ich nur konnte“, sagt er. In diesen Häusern wurde das Fundament für seinen heutigen Küchenstil gelegt, der klassisch französisch geprägt, aber modern und leicht interpretiert ist. Während der Zeit bei Thieltges, dessen Souschef er war, beschloss Thomas Schanz schließlich, dass er genug gelernt hatte, um sich selbständig zu machen, und zwar: zu Hause in Piesport, irgendwo im Nirgendwo zwischen Trier und Cochem.

Mit seinem Können hätte Thomas Schanz wohl jede Tür offen gestanden. Gourmetküche auf dem Land ist schwierig geworden, vor allem, wenn man noch keinen Namen hat. Alle anderen zuletzt gekürten deutschen Drei-Sterne-Köche – Tohru Nakamura, Christoph Rüffer, Edip Sigl – arbeiten in Millionenstädten oder deren Einzugsgebiet, hinter den meisten Restaurants dieser Klasse steht ein Investor oder ein großes Hotel. Schanz dagegen hatte seine Eltern, zwei Hände und ein Bauchgefühl, das ihm im Nachhinein recht gab: 2011 war Eröffnung, 2012 kam der erste Stern, 2016 der zweite: „Jede Ehrung machte mich mutiger, ließ mich befreiter kochen“, sagt er. Den dritten Stern empfand er dann vor allem „als Auszeichnung für Eigenständigkeit“. Das ist ihm wichtig. Schanz sagt, er habe sich schon seine Lehrstationen auch bewusst danach ausgesucht, ob die Restaurants sich tragen können, ob sie „selbständig und wirtschaftlich arbeiten, ohne Mäzen im Hintergrund, der die roten Zahlen ausgleicht.“

Einen Namen in der Branche hatte sich Schanz allerdings schon früh gemacht; nicht nur Kollegen war seine einfühlsame Fischküche aufgefallen – und seine Saucenkunst. Ob Sud, Essenz oder Extrakt, seine Saucen sind von mundfüllendem Geschmack, kommen aber immer ganz leicht daher, oft mit finessenreicher Säure: Zum gegrillten portugiesischen Carabinero, gebettet auf rohen Staudensellerie, glasiert mit geschmolzenem Ochsenmark und garniert mit Petersilienkresse, wird am Tisch intensiv zitrischer Bergamotte-Sud angegossen, dazu gibt es ein paar Tropfen Minzöl. Die Tranche vom wilden Steinbutt, nur kurz gebraten, mit pochierten Gillardeau-Austern, Eigelbperlen und Tomatenkompott, benetzt der Spitzenkoch mit Wacholder-Algenextrakt. Und Atlantik-Merluza (Seehecht) bestreicht er mit getrockneter Papaya, Meeresspinat, Minze und gerösteter Reis flankieren ihn aromatisch und textuell, dazu wird am Tisch „karibisch inspirierter“ Sud angegossen, mit fruchtigen Noten, aber ohne jeden Kitsch. Alles wirkt selbstverständlich, mühelos – doch welch enormer Arbeitsaufwand, wie viele Stunden des Experimentierens und Perfektionierens dahinterstecken, das weiß nur der Chef selbst.

Im Schanz ist vieles angenehm anders als in der Mehrzahl der Fine-Dining-Restaurants. Hier wird keine PR-Windmaschine betrieben, der Chef veröffentlicht weder Kochbücher noch ist er über Gebühr auf Social Media aktiv oder viel auf Events zu sehen wie andere Kollegen: „Ich bin einfach am liebsten in meiner Küche.“ Deshalb kann er sich den Luxus leisten, seinen Gästen, neben dem Degustations-Menü, eine À-la-carte-Auswahl anzubieten. In der Spitzengastronomie, zuletzt immer wieder für ihren De-facto-Menüzwang kritisiert, ist das inzwischen eine vom Aussterben bedrohte Spezies. Ebenfalls eine Rarität und typisch Schanz sind Gerichte, die viel Aufwand, klassisches Handwerk und Arbeiten à la minute erfordern. Zum Beispiel ein neu interpretierter Potaufeu vom Kaninchen mit gebratenem Rücken, Nieren und Leber. Oder die Ballotine vom Stubenküken im hauchdünnen Champignonmantel, gefüllt mit Gänseleber, Spinat und Trüffelfarce, dazu ein Kartoffel-Lauch-Ragout, Sauce Périgourdine und Sherry-Schaum. Solche Genüsse sind selten geworden. Bei Schanz wirken sie ganz leicht. Und verblüffend modern.

Das Schanz ist außerdem das, was nicht nur in der deutschen, sondern auch in der weltweiten Gastro-Szene heute immer seltener wird: ein klassischer Familienbetrieb. Die Eltern haben den Grundstein gelegt, als sie Anfang der Neunzigerjahre beschlossen, ihr Weingut durch ein kleines Hotel zu ergänzen, damit die Gäste nach den abendlichen Weinproben nicht mehr fahren mussten. „Mir hat immer sehr imponiert, wie hart sie für den Erfolg gearbeitet haben“, erinnert sich der Sohn. Heute macht er es genauso und bindet alle mit ein: Seine Mutter hat Buchungen und Rezeption im Griff, der Vater sorgt für das Frühstück am Morgen nach dem Sechs-Gang-Menü. Beide empfangen Gäste mit einer unverstellten Herzlichkeit, von der man schon fast nicht mehr wusste, wie gut sie sich anfühlt. Ein für ein Drei-Sterne-Restaurant mit elf Leuten kleines Küchenteam, nur zehn Tische, zwölf Gästezimmer, die Rechnung geht auf. Schanz’ Frau Isabelle legt überall Hand an, wo es nötig ist. Das Paar hat eine Tochter.
Und das nun Drei-Generationen-Haus ist weiterhin bestens gebucht, auch drei Jahre nach jenem Tag im März, als Thomas Schanz nichts ahnend nach Hamburg fuhr, um am nächsten Tag als Drei-Sterne-Koch zurückzukehren. Und ohne große Erklärungen Weltklasse zu kochen, ganz selbstverständlich, als hätte er nie etwas anderes getan.

:Tafelsilber trifft Lässigkeit
In Deutschland gibt es jetzt zwölf Drei-Sterne-Restaurants, so viele wie nie zuvor. Einer der neuen Spitzenköche ist Christoph Rüffer vom Hotel „Vier Jahreszeiten“ in Hamburg – der auch ein Kochbuch für den Hausgebrauch geschrieben hat, inklusive Rezept für Pesto-Nudeln.