
In unserer Kolumne „Grünfläche“
schreiben abwechselnd Oliver Fritsch, Christof Siemes, Stephan Reich und Christian Spiller über die
Fußballwelt und die Welt des Fußballs. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 49/2025.
Am Tag, als der erfolgreichste deutsche Fußballer in seiner
neuen Heimat Vancouver ankommt, hat ihn die dortige Lokalzeitung The Province nicht nur mit der Schlagzeile „A Legend Arrives“ auf dem Titel. Im Inneren des
Blatts findet sich auch eine Anzeige, gestaltet wie ein Brief. Der Adressat:
Das „liebe Vancouver“. Die Nachricht: Ich komme nicht, um die Stadt zu
besuchen. Ich komme nach Vancouver, um Titel zu gewinnen. Unterzeichner: Thomas Müller.
Das muss man ihm lassen: Er hat Wort gehalten. Knapp vier
Monate später steht der Bursche aus Pähl im Pfaffenwinkel, den auch ich mir
nach 756 Pflichtspielen für den FC Bayern nie außerhalb des Dunstkreises der
Säbener Straße vorstellen konnte, im Finale der MLS, der US-amerikanischen
Major League Soccer. Und selbst wenn er am Nikolausabend mit seinen Vancouver
Whitecaps gegen Lionel Messi und dessen Inter Miami das Endspiel verlieren
sollte, so hat er doch schon geliefert: Am 1. Oktober gewann Müller mit seinem
neuen Team bereits die Canadian Championship, seinen 35. Titel. Damit hat er
nun sogar einen mehr als der legendäre Titelfresser Toni Kroos.
Als Bewohner eines der hochnäsigen Fußballländer Europas
galt auch mir die MLS bislang allenfalls als zweitklassig; ein Austragsstüberl
für alternde Stars, die bei Sonnenschein und mittlerer Spielintensität noch mal
richtig Kasse machen wollen. Aber Müller hat den Ausflug in den Wilden Westen
von Anfang an ernst genommen. Und wenn ich seine ersten Monate in der
Zweitklassigkeit Revue passieren lasse, muss ich sagen: Respekt.
Schon als er bei der Abreise am Münchner Flughafen den
letzten Leberkaas verzehrt, ist die Melancholie verflogen, die ihn beim
Abschied von seinem Lebensverein FCB umwehte. Gekränkt war er, dass man ihn
dort nicht mehr wollte; seine Karriere schien in schlechter Laune zu
versickern, so wie die vieler anderer, die den richtigen Moment zum Abgang
verpasst haben. Später postete er noch ein Video, das ihn gemeinsam mit Vater
und Bruder im Westernoutfit am Ufer der Isar zeigte, ein letztes, schwermütiges
„Schee war’s“ in die Abenddämmerung hauchend. Doch als der trauernde
bajuwarische Cowboy wenig später in Vancouver von kanadischen Indigenen und
ihren Trommeln empfangen wird, ist er schon wieder ganz der Alte: „Heiß auf
Titel“, wie er sagt, und immer für einen Scherz zu haben, auch einen blöden.
Gleich in der ersten Sitzung mit seiner neuen Mannschaft
gewinnt er deren Herzen: Eine original bayrische Lederhose hat er mitgebracht
für Ralph Priso, den jungen kanadischen Mittelfeldspieler, der ihm die
Trikotnummer 13 überließ, überlassen musste. Weil Müller mit seiner
Weltmeisternummer auf dem Rücken das Team zu höheren Zielen pushen soll.
Johlend begrüßen die neuen Spielkameraden das krachlederne Kleidungsstück und
seinen Überbringer; geschickt hat er sich eingeführt, nicht als der legendäre
Weltmeister und WM-Torschützenkönig, sondern als Gaudibursch.
So macht Müller weiter, hibbelig wie ein junges Talent, das
froh ist, endlich bei den Großen mitkicken zu dürfen. Als er nach einer Partie
noch auf dem Platz eine kleine Torte für sein 300. Karrieretor überreicht
bekommt, flachst er: „Da habt ihr wohl die Tore im Training mitgezählt!“ Mit
seinem neuen Buddy Ryan Gauld, dem Mittelfeldspieler aus Aberdeen, etabliert er
als Jubelritual den „schottischen Kuss“, bei dem die beiden Männer ihre Stirnen
aneinanderreiben wie zwei brünftige Hirsche. Und nach dem Einzug ins
MLS-Finale kreiert er eine neue Kopfbedeckungsmode – ein Sandwich aus zwei
Basecaps und einer Wollmütze der Whitecaps, in dem er herrlich deppert
ausschaut.
Aber Müller besitzt neben dem Spaßvogelgen eine natürliche
Autorität. Schon im zweiten Spiel trägt er die Kapitänsbinde, auch die Elfmeter
darf er schießen. Neun Tore und vier Vorlagen in zwölf Spielen sind nicht schlecht
für einen Mann von 36 Jahren, selbst wenn man berücksichtigt, dass manche
Verteidiger mitunter respektvollen Abstand zu den Storchenbeinen des
Raumdeuters halten.
Und er lässt nicht nur Tore für sich sprechen: Auch an der
Pazifikküste sendet Radio Müller einfach weiter,
und aus dem Goalgetter ist für die Whitecaps-Truppe der No-Names zusätzlich
noch so etwas wie ein väterlicher Spielertrainer geworden. Vor dem
Anpfiff schwört er seine „Krieger“, wie er sie nennt, im Teamkreis ein: Helft
einander! Jeder soll den Ball wollen! Seid bereit für ihn! Wenn wir ihn haben,
bilden wir Dreiecke! Wir müssen in den Lücken sein und dort spielen! Vertraut
unserem System!
Und es geschieht, was ich nicht für möglich gehalten hätte:
Ein einzelner Fußballer kann halt doch eine ganze Mannschaft verändern und
besser machen. Niemand spottet über den Kasperle in der Operettenliga, sondern
bewundert, mit welchem Elan Ol‘ Man Müller versucht, seinen 36. Titel zu
gewinnen.
Falls er nicht doch noch verletzt ausfällt, kommt es nun zum
großen Showdown mit dem Größten der MLS, ach was, der ganzen Welt, mit Lionel
Messi. Konterfeis der beiden zieren das Plakat zum Finale; mit
zusammengezogenen Augenbrauen schauen die beiden Vollbartträger dem
Gipfeltreffen grimmig entgegen. Als sie sich erstmals auf einem Fußballfeld
begegneten, waren sie noch jung und glattrasiert, 2010 war das, wenige Monate
vor der WM in Südafrika, bei der Müllers Stern aufging (Messi ist schon immer
einer gewesen). Es war Müllers erstes Länderspiel, ein 0:1 gegen Argentinien,
noch dazu dahoam in München. Von den noch folgenden neun Begegnungen der beiden
gewann der Deutsche allerdings sieben, darunter spektakuläre Abreibungen wie
das WM-4:0 in Kapstadt, das 8:2 der Bayern gegen Barcelona und natürlich das
Finale von Rio 2014.
Diesmal aber gilt Messis Miami als Favorit, zumal zum rosa
Team des Fußballgotts weitere Altstars gehören wie Luis Suárez oder Sergio
Busquets. Aber da ist eben dieser Müller-Faktor. Auch wenn Messi in allen
sonstigen Statistiken vorne liegt (Länderspiele 196 : 131, Länderspieltore 115
: 45, Tore im Verein 787 : 301) – unser Mann in Amerika bleibt unberechenbar.
Und anders als bei Marco Reus, der im vergangenen Jahr als Neuling in der MLS
gleich seinen allerersten Titel gewann, fiebern bei Müller alle mit. Auch wenn
mehr als 8.000 Kilometer zwischen München und Miami liegen, wo am Samstagabend
um halb neun deutscher Zeit das MLS-Finale beginnt – Thomas Müller ist unser
Volksfußballer geblieben.
