
In einer Pumuckl-Folge war der Schauspieler Volker Prechtel dabei, als Drechslermeister Zacharias. Dass die Episode in einer Werkstatt für Holzarbeiten spielte, passte hervorragend, denn Prechtel gehörte zu jenen bayerischen Protagonisten, die eindeutig handgeschnitzt aussehen. Der drahtige Körper, die markanten Gesichtszüge, die Mundart – der Allgäuer Prechtel, geboren in einem Flecken namens Hopfen am See, hatte eine körperliche Präsenz, deren Energie von innen kam und nicht den Nährstoffen in der Leberkäs-Semmel geschuldet zu sein schien.
Als der bayerische Fußballspieler Thomas Müller aus den Kulissen trat (sein erstes Bundesligaspiel bestritt er im August 2008), konnte man sich an die Physiognomie Prechtels erinnert fühlen. Die Ärmchen, die Beinchen. Müllers Gesicht natürlich jugendlicher, die Nase nicht so dominant wie die von Prechtel. Fürs Lebenswerk würde sein enormer Riecher dennoch von entscheidender Bedeutung sein, das wussten die mit prophetischem Durchblick gesegneten Spielleser des Münchner Boulevardblattes tz schon 2010: „Thomas Müller und sein goldenes Näschen. Wie schafft er es nur, immer wieder genau da zu stehen, wo der Ball hinkommt?“

Dass Thomas Müller, 35, von Fans und Feinden als Bayer wahrgenommen wird, ist ein Wert an sich – und heutzutage im Fußballbetrieb eine Besonderheit. In einem Business, in dem der Mensch hinter dem Spieler immer blasser wird, ist Müller eine der letzten Figuren mit eigener, regionaler Identität. Früher wurden viel mehr Fußballer mit ihrer Heimatscholle verbunden. Stan Libuda war der „Garrincha vom Schalker Markt“, Abi Abramczik war der „Flankengott vom Kohlenpott“, der imposante Berliner Verteidiger Uwe Kliemann wurde von den Berlinern „Funkturm“ genannt – während der Berliner Funkturm von den Berlinern eigenartigerweise „Langer Lulatsch“ genannt wird. Es gab in der Bundesliga den Terrier, die Ente, den Gladbacher Tiger, den Bochumer Tiger, das Kampfschwein und die Kobra – jeden Spitznamen hatte sich ihr jeweiliger Träger hart erarbeitet.
Thomas Müller war ein Vielredner. Spitzname: Radio Müller
Diese regionalen oder animalischen Bezüge gibt es im globalisierten Top-Fußball kaum noch. Und weil den Spielern von Medienberatern eingebimst wird, lieber gar nichts zu sagen, um nicht irgendwo anzuecken und diesen oder jenen Sponsorendeal zu gefährden, hocken all diese Samtfüße vor den immergleichen Sponsorenwänden und sagen nichts. Lauter Männer ohne Eigenschaften. Oder sie müssen gar nicht mehr vor die Sponsorenwände, um dort nichts zu sagen: Ohrumschließende Bluetooth-Kopfhörer wappnen sie schon gegen jeden Anflug einer Frage. Der Zeigefinger vor dem Mund als signature move. Der neue Münchner Starspieler Michael Olise macht aus dem Nichts-sagen-Wollen ein Markenzeichen: Ich schweige, also bin ich. Oder, brandaktuell: Der Angreifer Leroy Sané verlässt die Bayern nach fünf Jahren, das Fachmagazin 11 Freunde macht einen Strich drunter: „Offen bleibt die Frage: Hat er je für irgendetwas gestanden?“
Thomas Müller, der Oberbayer aus Pähl bei Weilheim, ist dagegen immer ein Vielredner gewesen, sein eigener Lautsprecher, auf und neben dem Platz. Ein Kommunikationsgigant, Radio Müller genannt. Radio Müller war sogar nach dem WM-Sieg im Maracanã-Stadion von Rio de Janeiro 2014 auf Heimatwelle eingestellt. Damals fragte ihn eine kolumbianische Reporterin auf Englisch, wie er sich damit fühle, dass ihm der Goldene Schuh des besten WM-Schützen so knapp entgangen sei. Da brach, im Moment des größten Triumphs, mit voller Kraft der Bayer aus dem Bayern Müller hervor, er sagte: „Des interessiert mich ois net, der Scheißdreck. Weltmeister samma. Den Pott hamma. Den scheiß Goldenen Schuh kannst dir hinter die Ohren schmiern.“ Der Grant in diesem Vortrag war, wie jeder anständige Grant, nicht wortwörtlich zu nehmen: Doppelbödigkeit ist bei Bayern immer mit einzupreisen, erst recht dann, wenn sie im Maracanã vor lauter Freude anfangen zu poltern. Aber wie sollte die kolumbianische Reporterin das denn wissen? Das Bayerische bleibt vielen rätselhaft.

Auch in Deutschland erschließt sich manchen nicht, was unterm Sepplhut vor sich geht. Als sich in den Siebzigern im bayerisch-österreichischen Grenzgebiet ein eigenes Sexkomödien-Genre etablierte, der Lederhosenfilm, erkannten Kritiker von außen nicht, dass die Bayern mit diesen Bums-Streifen ihr Bauerntheater und ihre Heimatfilm-Klischees selbst ironisierten. Aber ohne diese Brechung wären Filmtitel wie „Beim Jodeln juckt die Lederhose“, „Alpenglüh’n im Dirndlrock“ oder „Wo der Wildbach durch das Höschen rauscht“ doch nicht halb so magisch gewesen.
Bayern? Terra incognita. Zitat Erich Ribbeck, Trainerikone aus dem Bergischen Land: „Es ist egal, ob ein Spieler bei Bayern München spielt oder sonst wo im Ausland.“ In manchen Köpfen mag sich, wenn von großen Bajuwaren die Rede ist, immer noch die Parade der Paradebayern in Marsch setzen. Männer, die sich im Biergarten Schweinernes reindrücken und sich danach mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Nacken reiben. Walter Sedlmayr, Herr Hirnbeiss, Franz Josef Strauß. Aber selbst der, wie sein Porträtist Jürgen Leinemann im Spiegel geschrieben hat, walzte ja nur scheinbar alles platt: „Vielmehr hastet er in weicher Eile, verfällt fast ständig in einen unprägnanten Trippeltrab. Sein Gang hat kein Gewicht.“
„Meine Waden sind so dünn, da kann kein Gegner die Knochen treffen, weil man sie so schlecht sieht.“
Der Fußballprofi Thomas Müller hat Zeit seiner Karriere den Beweis angetreten, dass Bayern auch und erst recht dann Dominatoren sein können, wenn sie nicht wuchtig sind, sondern spitzgliedrig. Krafttraining blieb in seinem Fall ohne Effekt. Die scheinbaren Unzulänglichkeiten seines Körpers waren in Wahrheit Trümpfe. O-Ton Müller, der die beiläufig eingestreute Pointe zu seinem Erkennungszeichen gemacht hat: „Meine Waden sind so dünn, da kann kein Gegner die Knochen treffen, weil man sie so schlecht sieht.“
Zum Image der Bayern und Bayerinnen gehört, dass sie über überdurchschnittliches komödiantisches Talent verfügen – die Dichte an Kabarettistinnen, Schenkelklopfern und Witzfiguren im Freistaat spricht für sich. Selbst Ministerpräsident Markus Söder (CSU) hält sich vermutlich für humorbegabt, ist es aber nicht: Ihm fehlt jede Fähigkeit zur Selbstironie. Bei Söder ist alles breddlbreit überbetont. Das unterscheidet ihn von Thomas Müller.

Im inzwischen komplett witzbefreiten Profifußball waren es tatsächlich oft einheimische oder zugewanderte Bayern, die sich um Originalität verdient gemacht haben. Der Löwen-Torwart Petar „Radi“ Radenkovic hat sogar gesungen: „Leute nääähmen Spiel zu ernst, haben nicht Humor.“ Karl-Heinz Rummenigge präsentierte Stilblüten: „Ich ziehe meinen Hut und sage Champs-Élysées.“ Franz Beckenbauer („Je länger ich darüber nachdenke, desto definitiver stehe ich nicht zur Verfügung“) wuchs vom Fuß- zum Wortkünstler. Der Münchner Fußballmanager Robert Schwan blieb zeitlebens ortstypisch selbstbewusst: „Ich kenne nur zwei vernünftige Menschen: Robert Schwan am Vormittag und Robert Schwan am Nachmittag.“ Sepp Maier versuchte irgendwann bei Ilja Richter im Abendprogramm das „Königlich Bayerische Amtsgericht“ nachzuspielen und hatte spätestens da seine Rolle als – Achtung! – Gaudibursch der Nation überstrapaziert. Jeden Morgen auf nüchternen Magen einen Clown zu frühstücken, ist auf Dauer dann doch ungesund.
Thomas Müller tauchte zu Beginn seiner Karriere in einem TV-Spot auf, mit dem Jahrhundertstürmer Gerd Müller stritt er sich um die letzte Müller-Milch im Kühlschrank. „Da steht doch mein Name drauf“, sagte Thomas. „Aber meiner auch“, antwortete Gerd. Thomas Müller verlor das Duell um die Milch, blieb aber im Werbegeschäft und machte etliche Jahre später Reklame für veganen Leberkäse. Auch die fleischfressenden Bayernfans verehren ihn trotzdem nach wie vor, wie immer geht auch hier Treue durch den Magen. Zumal Müller ja nicht zum überzeugten Voll-Veganer geworden war.
„Wir Fußballer denken nur von heute bis gestern.“
Oft war Doppelbödiges dabei, wenn Radio Müller auf Sendung ging. Also Wahres und Witziges. Nach dem EM-Viertelfinalsieg 2016 gegen Italien konterte Müller die blöde Reporterfrage, ob die Deutschen jetzt Europameister werden wollen: „Nein, es war immer ganz klar unser Ziel, im Halbfinale auszuscheiden.“ Nach dem WM-Viertelfinalsieg 2014 gegen Frankreich im Brutofen Maracanã: „Da merkt man erst mal, was für ein faszinierendes Gebilde ein Kaktus ist, da nicht einzugehen.“ Über den Kleidungsstil des Kollegen Jérôme Boateng: „Wenn ich so etwas tragen würde, würden mich alle fragen, ob jetzt ganzjährig der Fasching ausgebrochen ist.“ Über die intellektuelle Belastbarkeit im Kickbetrieb: „Wir Fußballer denken nur von heute bis gestern.“
Radio Müllers Dauerbeschallung gefällt und gefiel, gerade jenseits des bayerischen Sendegebiets, trotzdem vielen nicht. Müller hat sogar erstaunliche Wutpotenziale erschlossen. Auszug aus Twitter, beziehungsweise der Giftküche X: „Egal wie viel Müll du laberst, Thomas labert Müller.“ – „Thomas Müller ist der einzige Mensch, der mehr Bullshit labert als Christian Lindner.“ – „Thomas Müller stöhnt auf bayerisch.“ Sogar dieses letzte ist kein lupenreines Lob.
Traditionell sind bayerische Fußball-Könige und Erfolgsmenschen bundesweit respektiert, aber nicht immer geliebt worden: Zu viele Siege machen nicht sympathisch. Bei der WM 1974 wurde der Obergiesinger Franz Beckenbauer beim Spiel gegen Australien im Hamburger Volkspark ausgepfiffen, die Hamburger riefen nach dem Hamburger Uwe Seeler. Beckenbauer wurde, was gelegentlich vorkam, zum wilden Kaiser und rotzte Richtung Publikum. Ein Skandal. 1980 kehrte er aus dem Exil in der amerikanischen Operettenliga bei Cosmos New York in die Bundesliga zurück, ausgerechnet nach Hamburg, ausgerechnet ins Volksparkstadion. Er streifte das HSV-Trikot mit dem BP-Logo über und tat das, was die Fans bei seiner Ankunft auf einem Transparent gefordert hatten: „Kaiser Franz, stoß die Bayern vom Thron!“ 1982 wurde er mit dem HSV deutscher Meister. Und tatsächlich wuchs Beckenbauer in diesen zwei Hamburger Jahren und danach vom bayerischen zum nationalen Glücksmaskottchen.
Mehr geht kaum: 503 Bundesligaeinsätze, 13 Meistertitel, zweimal Champions League-Sieger, einmal Weltmeister
Geschichte wiederholt sich nicht, und so wird Thomas Müller eine Ehrenrunde im HSV-Trikot kaum drehen. Seine Geschichte ist auch so rund, sein gelegentlich unprägnanter Trippeltrab hat ihn weit gebracht. 503 Bundesliga-Spiele, alle für seinen FC Bayern. 13-mal Meister, zweimal Champions League-Sieger, einmal Weltmeister. Einmal deutscher Lesepreis-Träger, für sein Engagement in der Leseförderung. Als Rhetor nach dem Spiel hat er sich mal verdribbelt, beim Thema WM in Katar. Aber da war er wirklich nicht der Einzige.
Es gibt Unverfänglicheres. Übers Essen reden, das hat Tradition bei deutschen Fußballspielern. Der Herzenshamburger Uwe Seeler schrieb sogar in einer seiner Biografien über seine Lieblingsspeise: „Knackwurst war mein Leibgericht.“ Und der Herzensbayer Thomas Müller verriet in einem Interview zum Thema „Schnitttechnik beim Verspeisen von Weißwürsten“, dass er nur im Notfall zuzele. Wobei: „Lieber eine gezuzelte Weißwurscht als gar keine.“
Derart gestärkt zieht Thomas Müller, das Original, nun also in die finale Schlacht mit seinen Bayern, bei einem überflüssigen Plastik-Turnier in Amerika namens „Klub-WM“, Start ist am Sonntagabend, treten sie in einem sagenhaft hässlichen Trikot mit eingearbeitetem Sabberlatz an. Man sollte sich den Mann in seinem letzten Hemd trotzdem nicht entgehen lassen. Der Spaß ist ja früh genug vorbei.
