Thomas Gottschalk: Aufmerksamkeit, bitte | ZEIT ONLINE

Der ehemalige Showmaster Thomas Gottschalk
hat ein Buch geschrieben, es trägt den Titel Ungefiltert und erscheint am
Mittwoch dieser Woche. Es handelt offenbar von öffentlicher Aufmerksamkeit,
öffentlichem Sprechen und Auftreten sowie der vermeintlich größer gewordenen
Empfindlichkeit der Öffentlichkeit.

Ich habe das Buch noch nicht
gelesen, ich hatte keine Zeit, ich war mit anderen Dingen beschäftigt. Um aber
die Aufregung zu betrachten, die dieses Buch erzeugt, noch bevor es erschienen
ist, muss man es auch nicht unbedingt gelesen haben. Manches verrät sich von
selbst (Vorab-Interview, Vorab-Talkshow, Lärm in sozialen Medien).

Gottschalk scheint vor allem aus
eigener Betroffenheit heraus zu schreiben, das ist sein gutes Recht als
Buchautor. In Ungefiltert beklagt er sich also wohl über die Gegenwart und
eine jüngere Generation, der es aus Sicht Gottschalks scheinbar an Bildung
mangelt.

Journalistinnen und Journalisten,
die das Buch vorab lesen wollten, mussten gegenüber dem Verlag
schriftlich versichern, nicht vor dem Erscheinungstag über den Inhalt zu berichten. Das ist, zumal bei bekannten bis berühmten Autoren, heute
ein übliches Verfahren. Verlage möchten ihre Neuerscheinungen möglichst groß,
kontrolliert und wirkungsvoll in die Öffentlichkeit tragen, damit sich die
Bücher gut verkaufen. Journalisten wiederum sind neugierig, was in manchen
Büchern steht, und lassen sich auf Sperrfristen ein, um nach deren Ablauf rasch
eine Rezension zu veröffentlichen. Mit manchen Medien vereinbaren Verlage oder
deren Autoren zusätzlich noch Interviews, die üblicherweise bereits vor dem
Erscheinen gedruckt oder gesendet werden. Nichts davon ist anrüchig. Auch wenn
man sich als Journalist, als Medium immer wieder selbst fragen muss: Welchen
Preis ist man bereit zu zahlen, etwa für exklusive Zugänge zu Buchmanuskripten
oder deren Verfasser? 

Mit sich selbst kennt sich Gottschalk am besten aus

Bei Gottschalk war der Preis nicht
höher als bei anderen. Der einstige Wetten, dass..?-Moderator hat vorab mit
dem Spiegel gesprochen und war Gast in der WDR-Talkshow Kölner Treff. Am
vergangenen Freitag erschien mittags das Spiegel-Interview online, abends
ging die Talkshow live über den Sender. Seither reden oder schreiben relativ
viele Leute über die beiden Gespräche. Die Süddeutsche Zeitung hat ihre
Besprechung am heutigen Montagmorgen online veröffentlicht und sich also nicht an die Sperrfrist gehalten. Kommt alles
vor. Aus Sicht des Verlags und seines Autors dürfte das alles
aufmerksamkeitsökonomisch als Erfolg zu werten sein. Wie diese beiden Parteien
sogenannt inhaltlich zufrieden sein mögen mit der Vorabberichterstattung, ist
eine andere Frage.

Gottschalk wurde im Spiegel von
der Redakteurin Vicky Bargel und dem Redakteur Alexander Kühn vor allem mit
seinem früheren Tun und Reden im Vergleich zu Behauptungen in seinem Buch
konfrontiert. Der Grundton der Fragen in dem Interview, das mit dem Gottschalk-Zitat
„Ich habe Frauen im TV rein dienstlich angefasst“ überschrieben war, lautet
ungefähr: Der heute 74-jährige Gottschalk könnte vielleicht nicht gut gealtert
sein, er feiere nun, obwohl er das Gegenteil behaupte, ein Früher, das gerade
nicht besser gewesen sei – und komme also irgendwie nicht mit der Gegenwart
klar. Er sei letztlich ein alternder Mann, der sich gegen das Abgeschobenwerden
wehre, indem er die Jungen beschimpfe. Steht da nicht so wörtlich, liest sich
aber so. Im Kölner Treff befragte der Moderator Micky Beisenherz in eine
ähnliche Richtung. Beisenherz tat das aber weniger konfrontativ als die Spiegel-Leute. Er appellierte an Gottschalks Vernunft: Warum darauf bestehen,
manche Dinge in der Öffentlichkeit zu sagen oder zu tun, wenn die vielleicht
einfach nicht besonders klug sind? Gottschalk konterte bei beiden Interviews
schlagfertig, wenn auch nicht sonderlich überzeugend. Fast so wie früher oft
bei seinen Sendungen.

Gottschalks buchgewordene
Beschwerde scheint im Wesentlichen die Verlängerung seines Schlussmonologs am
Ende seiner letzten Wetten, dass…?-Sendung vor einem Jahr zu sein. Gottschalk
hatte da behauptet, er habe früher „immer im Fernsehen das gesagt, was ich zu Hause auch gesagt habe. Inzwischen rede ich zu Hause anders als im Fernsehen
– und das ist auch keine dolle Entwicklung. Und bevor hier irgendein
verzweifelter Aufnahmeleiter hin und her rennt und sagt: Du hast wieder einen
Shitstorm hergelabert – dann sage ich lieber gar nichts mehr.“ Das tut er
nun offenbar per Buch, indem er verschriftlicht, was er früher hauptberuflich
im Fernsehen getan hat: Er liefert und inszeniert eine kalkulierte
Grenzüberschreitung, nun aber nicht mehr als Unterhaltung (nicht mal als
zotige).

Frank Elstners Formaterfindung Wetten, dass..? hat ursprünglich wegen der Faszination des Publikums für die
Wetten funktioniert. Elstners Nachfolger Gottschalk erhöhte die Attraktion der
Sendung, indem er den Deutschen glaubhaft vormachte, sie lebten in einem Land,
das wichtig genug sei, dass sich auch US-amerikanische Hollywood- und britische
Popstars gelegentlich auf eine deutsche Fernsehcouch in irgendeiner Sporthalle
vor Kameras setzen. Gottschalk behauptete die vermeintliche Nähe zu diesen
Menschen nicht nur rhetorisch, sondern auch physisch. Er rückte ihnen auf den
Pelz. Dazu passte Gottschalks Moderationstechnik, die aus kontrollierter
Improvisation und geistesgegenwärtig aus dem Nichts produzierter Pointen bestand.

Nun haben sich womöglich weniger
die Zeiten selbst verändert als deren Wahrnehmung. Gottschalks Klage, die auf
„Man darf hier ja gar nichts mehr sagen“ hinausläuft, wirkt wie die Bestätigung
einer Entwicklung, die sich in Studien wie der regelmäßig vom Institut Allensbach durchgeführten zur „gefühlten
Meinungsfreiheit“ in Deutschland ablesen lässt: Ein stetig zunehmender Teil der
Befragten beantwortet die Frage „Haben Sie das Gefühl, dass man heute in
Deutschland seine politische Meinung frei sagen kann, oder ist es besser,
vorsichtig zu sein?“ mit „Besser vorsichtig sein“. Im Jahr 2023 waren es 44
Prozent gegenüber 40 Prozent, die „Kann frei reden“ antworteten. Vor zehn
Jahren waren es noch nur 20 Prozent, die „Besser vorsichtig sein“ sagten.

Nun kann man über die Methodik solcher
„Freiheitsindizes“ streiten, die ja weniger den tatsächlichen Stand der
Meinungsfreiheit in einem Land abbilden als Meinungen über Meinungsfreiheit. Und
man kann lange über den Einfluss sozialer Netzwerke auf diese Entwicklung
debattieren: Früher konnten sich Menschen zum Beispiel über den Moderator von Wetten, dass? höchstens per Zuschauerpost ans ZDF beschweren. Heute könnten
sie ihre Klage unmittelbar auf X rausblasen, auf Instagram, Facebook, TikTok,
und niemand würde sie daran hindern. Die Menge der Menschen, die ihre Meinung
öffentlich frei äußern könnten, hat ebenso rasant zugenommen wie die Menge
jener Menschen, die glauben, ihre eigentliche Meinung nicht öffentlich äußern
zu dürfen. Und dieses scheinbare Paradox, diese eben „gefühlte“ Wahrheit des
vermeintlichen Sprechverbots, wird von Populisten politisch längst erfolgreich
bewirtschaftet.

Thomas Gottschalk, so könnte man
es auch sehen, tut dies nun auch, allerdings erst einmal nur auf sich und seine
Sprecherposition bezogen. Mit sich selbst kennt er sich nun einmal auch am
besten aus.

Im Gegensatz zur Restbevölkerung
hat Gottschalk das öffentliche Sprechen berufsmäßig betrieben, er war ein paar
Jahrzehnte lang mit seinen Sendungen der unangefochtene Meister der Erregung
öffentlichen Gesprächsstoffs in Deutschland.

Und im Gegensatz zur Restbevölkerung war für ihn die Frage, was er vermeintlich
öffentlich sagen durfte und was nicht, auch nie eine, die im Konjunktiv blieb:
Es war die Voraussetzung seines Jobs und seines Erfolgs, dass er als Spaßmacher
stets an der Grenze des Sagbaren entlangtänzelte.

Mit seinem Buch hat sich Thomas Gottschalk nun erneut als Meister der Erregung öffentlichen Gesprächsstoffs
erwiesen. Noch bevor das Buch überhaupt draußen ist. Aber dieses Mal ganz ohne
Spaß. Glückwunsch.