„The Frankfurt Prototype“: Eine temporäre Wohnanlage der Zukunft – Kultur

Der am meisten diskutierte Neubau Frankfurts ist nicht von Weitem zu erkennen. Es handelt sich nicht um den x-ten Glasturm, in dem Investoren ihr Geld parken möchten, nicht um einen repräsentativen Museumsbau und auch um keinen neuen Bahnhof oder Flughafen. Man findet das Bauwerk gar nicht mal so leicht, obwohl es in der Nähe des Messegeländes liegt. Einfach den Schildern zum Senckenberg-Museum folgen, aber dann nicht den Haupteingang aufsuchen, sondern kurz davor in den Hof einbiegen. Bevor man etwas sieht, hört und riecht man schon, dass hier eine ganze andere Atmosphäre herrscht als sonst in dieser Stadt. Die Lichter sind dezent und farbig, erinnern eher an eine Bar. Jemand hat in einer Schale Feuer gemacht, und überall stehen junge Menschen zusammen und diskutieren.

Im Zentrum des Geschehens steht eine kühne Konstruktion aus Holz, die an ein Ferienhaus an der Küste Japans erinnert oder an etwas, das der Regisseur Werner Herzog am Set eines seiner Filme im Urwald errichten könnte. Es steht in einem tristen Innenhof, den man ohne diesen Bau nie im Leben beachten würde, obwohl es ein großes Areal ist, das sich in die dramatische Hässlichkeit mancher Frankfurter Ecken fügt.

Der Bau nennt sich Prototyp und ist ein Projekt der Städelschule, der Fachhochschule sowie zahlreicher weiterer Institutionen der Zivilgesellschaft. Er besteht aus mehreren Teilen, die ganz aus Holz und Stahl gefertigt wurden. Die Materialien wurden aus anderen Baustellen recycelt, das Holz kam von der Verschalung einer Betonbrücke. Zur Linken erhebt sich eine Art Regal, das sich nach und nach in einen vertikalen Garten verwandeln kann. Versucht wird, hier so viel Gemüse und Obst wie möglich anzubauen, eine große grüne Fläche der Möglichkeiten. Man kann auch eine Hängematte aufspannen.

Der untere Bereich des Prototyps ist frei zugänglich und flexibel zu gestalten. Man kann zu Lesungen und Aufführungen einladen, einfach nur Tee trinken oder auch einen Flohmarkt veranstalten. Der Prototyp, bezahlbar, flexibel und einladend, ist auch für die Unterbringung von geflüchteten Personen gedacht. Bislang müssen sie hinter Zäunen wohnen, in Containern oder Heimen, fernab vom Rest der Gesellschaft. Hier ermöglicht das Untergeschoss eine Begegnung, eine urbane Interaktion, die der Fantasie ihrer Nutzer keine Grenzen setzt.

Das Kunstwerk, das man in Frankfurt gesehen haben muss

Steigt man über die überraschend stabile und breite Holztreppe nach oben, betritt man den privaten Bereich. Hier sind zwei Einheiten übereinander zu besichtigen, dazu kommen zwei Terrassen, eine sehr große und eine etwas intimere. Innen wirken die bodentiefen Fenster und die hellen Holzwände wie ein minimalistisches Hotel oder eine Kunstgalerie. Und in Frankfurt ist das schon ein Statement, denn wie in allen deutschen Großstädten dominiert hier die Funktion des Wohnobjekts als Geldanlage. Im Innenhof des Senckenberg-Museums steht ein dunkler Turm, wie er auch zur Hamburger Hafen-City passen würde: Apartments für Millionäre mit Terrassen, die die meiste Zeit des Jahres leer stehen.

Dieser Prototyp wird nicht zum Wohnen genutzt, sondern bietet dem Zentrum für Gegenwartskunst von Kabul eine Heimat im Exil. Vom Standort her passt es, denn in dieser Nachbarschaft fassten die in der Nazi-Zeit emigrierten, jüdischen Intellektuellen wieder Fuß. Max Horkheimer und Theodor Adorno gingen über diese Bürgersteige.

Nun sind Künstlerinnen und Künstler aus Kabul in diesem avantgardistischen Projekt untergekommen. Ganz oben, in der Galerie, ist ein einfaches Schulheft zu sehen. Es gehört einer jungen Frau, die in Kabul zur Schule ging. Bis die Taliban die Mädchen vom Unterrichten verbannten. Dann wurde das Heft zum Tagebuch und schließlich zum Kunstwerk. Sie berichtet vom verheerenden Terroranschlag auf eine Schule, dann folgen Handabdrücke und grafische Elemente, die den Übergang von Schulroutine zum Taliban-Horror dokumentieren.

Allein dieses Exponat symbolisiert unsere Zeit besser und dringlicher als viele Podiumsdiskussionen und Talkshows. Das Mädchen bleibt anonym, aber das Heft ist derzeit das Kunstwerk, das man in Frankfurt gesehen haben muss.

Der Prototyp, eine Initiative des Dozenten und Autoren Niklas Maak und der einstigen Leiterin des Senckenberg-Museums, Brigitte Franzen, steht in der Grenzregion zwischen Städtebau, Migrationspolitik und Kunst. Der Oberbürgermeister von Frankfurt, Mike Josef, ist der Schirmherr des grazilen, aber stabilen Baus. Man konnte die Uhr danach stellen, bis sich Proteste von rechter Seite erheben. Die lokale Bild-Zeitung empörte sich über die vermeintlich hohen Kosten für Müll, weil recycelte Baustoffe verwendet wurden. Dabei handelt es sich um eine Summe, weniger als 200 000 Euro, für die man im Rhein-Main-Gebiet gerade mal eine Garage bauen kann.

Die AfD skandalisiert das Projekt, weil sie Angst hat vor Mut

Die örtliche AfD wurde wach und skandalisierte das ganze Vorhaben. Damit liegen sie auch richtig, denn der Prototyp ist sehr gut geeignet, ihnen ihre wichtigste Ressource abzugraben, nämlich den Pessimismus und die Angst. Kommt es zu schöneren Begegnungen zwischen geflüchteten Personen und Bürgerinnen und Bürgern, wie sie im barähnlichen Kunstraum im Erdgeschoss denkbar sind, verringert sich auch die Funktion des Fremden als Schreckgespenst. Außerdem handelt es sich um ein optimistisches Projekt, das aber keine Unsummen verschlingt, sondern genau jene Talente und Fähigkeiten benötigt, die in der deutschen Baumarktgesellschaft ohnehin gut entwickelt sind.

Es handelt sich um Kunst und Politik gleichermaßen, aber eben mit einem aktuellen Witz. Es wird nicht gemahnt und gewarnt, sondern eingeladen und ermutigt. Im Zuge der Arbeit am Prototyp entstand auch ein eigenes Möbel, das geeignet ist, den Siegeszug durch alle Kitas, WGs und Gärten anzutreten: die „Unbox“ der drei Studentinnen Lily Baumeister, Luisa Hoist und Celine Hänle. Es handelt sich um eine unscheinbare Kiste, der man mit nur wenigen Handgriffen drei Hocker und einen Tisch entnehmen kann. Ohne große Umstände hat man schon eine Spielecke, einen Picknicktisch oder ein Pop-up-Café eingerichtet. Das Charisma und der Charme des Projekts weisen weit über Frankfurt hinaus. Man muss das Land nicht den Bedenkenträgern überlassen. Es ist ein Bau gegen die Angst. Man verlässt den Innenhof des Museums und denkt inspiriert: Alles könnte anders sein.