„Tatort“ Kiel: Wir haben hier Berliner Zustände

Mit Borowski und das Haupt der Medusa (NDR-Redaktion:
Christian Granderath, Sabine Holtgreve) geht im Kieler Tatort eine Ära
zu Ende. Die von Borowski (Axel Milberg). Begonnen hatte der Ermittler
allerdings anderswo – nicht in Kiel, noch nicht mal im Tatort. Klaus Borowski hieß der Ermittler, den Drehbuchautor Markus Stromiedel 2002 für die
vorletzte von sechs Folgen der missglückten Stahlnetz-Wiederbelebung
erfand (1999–2003). Die Stahlnetz-Reihe war so was wie der Tatort-Vorgänger
in der Frühzeit des westdeutschen Fernsehens, ein Straßenfeger, wie es damals
hieß.

Als Borowski entworfen wurde, war das Ende des Neuanfangs
schon beschlossene Sache. Die Freiheit war entsprechend groß, wie Stromiedel
sich im Gespräch erinnert, weder Produzentin
Kerstin Ramcke noch Redakteurin Doris Heinze hätten sich sonderlich fürs Drehbuch
interessiert. Stromiedel wollte einen Ermittler, der, wie er sagt, damals noch
ungewöhnlicher gewesen sei als heute: ein
Einzelgänger, rau, der nur mit seiner Katze in einer nicht so schicken Wohnung
im legendären Ihme-Zentrum in Hannover interagiert, wo die Folge spielte, und
ansonsten sozial inkompatibel ist, aber zu entdecken als guter Kerl.

Die Besetzung stand beim Schreiben noch nicht fest, die dann
von Axel Milberg mit Schnörres verkörperte Figur kam, wie die ganze Folge PSI, aber
gut an. Weshalb Milberg in seinem Geburtsort Kiel ab 2003 als Tatort-Kommissar
Borowski weiterbeschäftigt wurde. Und es inklusive Finale nun auf 44 Auftritte
gebracht hat – Platz 7 in der ewigen Bestenliste, knapp hinter Peter Sodanns
Kommissar Ehrlicher (MDR, Dresden/Leipzig, 1992–2007, 45 Filme).

Borowski-Erfinder
Stromiedel durfte für den NDR nach der Stahlnetz-Folge zwar noch den
Lindholm-Tatort: Hexentanz (NDR-Redaktion: Doris Heinze) verfassen
(„mit 9,13 Millionen Zuschauer der erfolgreichste NDR-Fernsehfilm des
Jahres 2003“, wie es auf des Drehbuchautors Website heißt). Für den
Schauplatz, dessen Hauptfigur er erfunden hatte, kam Stromiedel aber nie zum
Einsatz. Fernsehfilmchefin
Heinze
sorgte übrigens einige Jahre später mit Drehbüchern,
die sie selbst geschrieben, aber ihrem Sender unter anderem Namen verkauft
hatte, für einen
fast vergessenen ARD-Skandal
und wurde als Betrügerin verurteilt. Im Zuge der damaligen Recherchen hieß
es über sie
: „Wer bei ihr durchgefallen
war, bekam nicht nur beim Sender oder der Förderung Schwierigkeiten, sondern im
gesamten System der Öffentlich-Rechtlichen.“

In der Tatort-Auftaktfolge
Väter (2003) wurde dem Einzelgänger Borowski – abweichend vom Stahlnetz-Entwurf
– dann eine Tochter
angedichtet, von deren Mutter er getrennt lebte. Weil Kinder, wie so oft im
ARD-Sonntagsabendkrimi, wegen des Betreuungsaufwands die Ermittlungen nur
stören, musste Clara von Beginn an wegorganisiert werden (zu Christian
Grashof als Angelfreund), um bald ganz zu verschwinden. Damit dann als letztes
Lebenszeichen ein Anruf
aus Übersee
an die sinnlose Profilierungsidee erinnern konnte.

Ebenfalls Geschichte ist Borowskis erster Assistent, Alim
Zainalow (Mehdi Moinzadeh)
. Er hatte aserbaidschanischen Hintergrund und wurde
unangenehm lehrlingshaft-deppert dargestellt, damit die Überlegenheit des weißen
Chefs gut zu erkennen war. Zainalow wurde später – das blieb der Figur nach
9/11 nicht erspart – zu Unrecht als islamistischer Terrorist verdächtigt. Die Figur
verabschiedet sich nach sechs Folgen, weil Borowski ihm – anders als Revierchef
Schladitz (Thomas Kügel) – nicht geglaubt hatte.

Ab 2010 übernahm Sibel Kekilli als Sarah Brandt den Platz an
Borowskis Seite, die 2017 von Almila Bagriacik als Mila Sahin (ausgesprochen: Şahin) beerbt wurde, die nun
ihrerseits gemeinsam mit der neu hinzukommenden Karoline Schuch weitermachen
wird. Was die deutschen Konjunkturen in Sachen Diversität anschaulich macht,
die der Tatort durch seine Langlebigkeit nebenher archiviert: Während die
deutsch-türkische Co-Ermittlerin durch Kekilli ab 2010 (dem Jahr, in dem Mesut
Özil seinen „Integrations“-Bambi bekam) zu einer Art Kieler
Markenzeichen geworden ist, das durch die Anschlussrolle Mila Sahin gepflegt
wird, weiß von Moinzadehs Alim Zainalow als früherem Versuch einer adäquateren
Gesellschaftsabbildung wohl kaum einer mehr. Dabei ging 2002 auch Klara Blum in
Konstanz an den Start mit Assistent Bülent Îsi, gespielt von Ercan
Özçelik; der durfte allerdings nur drei Folgen durchhalten.