
Die noch junge ARD-Sonntagabendkrimi-Saison hat ihren ersten
Höhepunkt: Mit Maryam Azadi (Melika Foroutan) und Hamza Kulina (Edin Hasanović)
tritt ein neues Team den Dienst in Frankfurt am Main an. Der Tatort:
Dunkelheit (HR-Redaktion: Erin Högerle, Jörg Himstedt, Degeto-Redaktion:
Birgit Titze) könnte als Meilenstein in die lange Geschichte der Sendereihe eingehen.
Denn Azadi und Kulina sollen sich ausschließlich mit cold
cases beschäftigen, also ungelösten Fällen. Von der Faszination, wie alte
Spuren dank des technologischen Fortschritts neu und besser gelesen werden,
leben ganze Streamingdienste. Wenn sich der neue Frankfurter Tatort nun ausschließlich
auf Altfälle konzentrieren will, könnte das der Sendereihe eine neue Facette
hinzufügen: die True Crime-isierung des ARD-Sonntagabendkrimis.
Erzählerisch ist das eine Herausforderung (Taten sind vor
langer Zeit geschehen), auch wenn hier am Anfang der klassische Leichenfund aus
dem Whodunit-Krimi steht. Michaela Zeller (Anna Drexler) will die Garage mit
den Hinterlassenschaften des verstorbenen Vaters ausräumen und entdeckt dabei
in einem Plastikfass Leichenteile. Das war beim sogenannten Main Ripper, auf
dessen Fall der Tatort basiert, auch so.
Es ist die Geschichte von einem Serienmörder im Anzug des
Biedermanns, einem scheinbar harmlosen Familienvater, der ein
Entrümpelungsunternehmen betrieb und über Jahrzehnte Frauen umgebracht hat. Bemerkenswert
an Dunkelheit ist, wie es dem Film gelingt, entgegen der gewöhnlichen
Dramaturgie Spannung zu verbreiten und emotionale Momente zu schaffen
(Drehbuch: Senad Halilbašić, Erol Yesilkaya mit Regisseur Stefan Schaller).
Der Täter ist nach 22 Minuten als Wolfgang Zeller identifiziert
und kann nicht mehr verhaftet werden, er ist ja tot. Die Ermittlungsarbeit
bleibt dennoch aufregend, weil immer weitere Opfer gefunden werden, deren
Geschichten entfaltet werden können. Das ist nicht nur erzählerisch geschickt,
sondern in diesem Film ein programmatischer Akzent. Wo True-Crime-Formate zumeist von Täterfaszination getrieben sind, stellt der Film der Figur des
männlichen Sadisten die Perspektive der Hinterbliebenen entgegen.
Diesen Leuten „Gewissheit zu verschaffen“,
beschreibt Kommissarin Azadi als den Antrieb ihrer Arbeit. Nach knapp zwei
Dritteln des Films werden die Angehörigen der Opfer aufs Revier bestellt, um
sie vor der Pressekonferenz über den gelösten Fall zu informieren. Die
Miniaturen der Hinterbliebenen sind bewegend, weil in kurzen Szenen etwas über
die getöteten Personen erzählt wird – über Schmerz, Trauer und Verlust.
Der im letzten Jahr kurz nach den Dreharbeiten gestorbene
Hans Diehl hat einen letzten Auftritt als dementer Vater, der den Mord an der
Tochter verdrängt hat. Und Sahin Eryilmaz spielt den mittlerweile erwachsenen
Sohn einer von Zeller getöteten Frau, dem nur seine Erinnerungen als kleiner
Junge geblieben sind. Diese Collage der Traurigkeit (Editor: Stefan Blau) ist
leise, unpathetisch inszeniert.
Das Opfer, das hier Meral Yenigün heißt und in den kurzen
Rückblenden von Canan Kir gespielt wird, eröffnet eine weitere Ebene der
Geschichte, von der dieser Tatort handelt: von Migration und
strukturellem Rassismus. Denn im Fall der sogenannten Gastarbeiterin Meral Yenigün wurde seinerzeit nicht ermittelt.
Dunkelheit stellt sich nicht nur deswegen als Horrorstory
aus dem weißen Deutschland dar. Die Frage der Zeller-Tochter an das
Ermittlungsteam („Wie erklär’ ich das Luca, wer ihr Großvater war?“)
lässt sich auch als eine spezifisch deutsche verstehen und wird zugleich
unterlaufen durch schockhafte Aufklärung, weil das Kind auf der Treppe mithört,
was Kulina und Azadi berichten.