Tag der Großeltern: Was ich von meiner Oma fürs Leben gelernt habe

Als ich noch keine drei Jahre alt war, musste meine Mutter fast täglich die Nummer meiner Oma für mich wählen, damit ich ihr alles erzählen konnte: vom Kindergarten, vom Spielplatz und was eben sonst so los war. Meine Oma lebte mehrere hundert Kilometer entfernt, aber mir war es offenbar damals schon wichtig, dass sie dabei war. Und sie nahm meine kindlichen Geschichten ernst, auch wenn es allerhand Missverständnisse gab. Zum Beispiel, als ich erzählte, ich hätte im Kindergarten keinen Stuhl bekommen. Auf Omas besorgte Nachfrage, ob ihre Enkelin von den Betreuerinnen vernachlässigt werde, stellte sich heraus, dass wir „Reise nach Jerusalem“ gespielt hatten. Oder als ich berichtete, Otto sei schon wieder da gewesen! Da wurde meine Oma hellhörig: Von einem Otto im Bekanntenkreis meiner Eltern hatte sie noch nie gehört. Wer war dieser Mann? „Otto“ stellte sich schließlich nicht als Mensch, sondern als Paket des gleichnamigen Versandhändlers heraus.

Inzwischen bin ich 31 Jahre alt und erzähle meiner Oma immer noch gerne, was in meinem Leben so los ist. Sie heißt Jutta und hat gerade ihren 79. Geburtstag gefeiert. Das Schnurtelefon von damals gibt es nicht mehr, wir telefonieren über Videochat. Meine Oma erzählt mir von ihrem Garten, ihren Treffen mit Freunden und Bekannten und was sie zu Mittag gegessen hat. Ich erzähle ihr von Dates, meinem Arbeitsalltag und was ich gleich zum Abendessen koche – aber eben auch, was mich besorgt und beschäftigt. Meine Oma ist für mich eine Vertrauensperson. Seit ich denken kann, habe ich mich bei ihr immer sicher gefühlt und gewusst: Mit ihr kann ich über alles sprechen. Ihr muss ich nichts verheimlichen, vor ihr muss ich mich nie erklären oder rechtfertigen. Meine Oma leidet und freut sich mit mir, und oft hat sie noch einen klugen Ratschlag für mich.

Mit fünf Jahren besuchte ich sie zum ersten Mal allein

Meine ersten Lebensjahre habe ich in Ulm verbracht, später sind meine Eltern mit mir und meinem kleinen Bruder ins Münchner Umland gezogen. Für meine Oma hat es keinen Unterschied gemacht, sie lebt in Sachsen-Anhalt, 500 Kilometer entfernt. Im Alltag konnte sie mich deswegen nie betreuen, aber sie und mein Opa haben ihren Urlaub immer gerne mit mir verbracht – und vielleicht war unsere gemeinsame Zeit genau deshalb immer besonders intensiv und liebevoll, frei von Alltagsstress und Routinen. Meine Oma konnte mir ihre ganze Aufmerksamkeit widmen und spielte stundenlang geduldig mit mir Barbie und Doktor, als es meine Eltern schon längst in den Wahnsinn trieb.

Als ich fünf Jahre alt war, verbrachte ich zum ersten Mal eine Woche allein bei meinen Großeltern. Wir spielten mit den alten Indianerfiguren meines Vaters, verbrachten den Nachmittag im Schrebergarten, es gab ACE-Saft und „Fritt“-Kaubonbons. Heimweh hatte ich keins. Stattdessen genoss ich es, fernab von meinem kleinen Bruder allein im Mittelpunkt zu stehen und verwöhnt zu werden. Ich wäre sogar, so erzählt es meine Oma, am liebsten bei ihr geblieben. „Das geht nicht“, erklärte sie mir daraufhin. „Man wohnt bei Mama und Papa, bei Oma ist man nur zu Besuch.“

Ausflüge gab’s auch: 2010 im Filmpark Babelsberg
Ausflüge gab’s auch: 2010 im Filmpark Babelsbergprivat

Mir leuchtete das offenbar ein, ich fuhr wieder mit Mama und Papa nach Hause, kam von da an aber jedes Jahr zu Besuch. Die ersten Jahre allein, später mit meinem Bruder. Für uns war es eine paradiesische Woche: Wir machten Ausflüge ins Tropical Island oder den Filmpark Babelsberg, aßen jeden Mittag Dessert mit Vanillesoße, und abends durften wir länger fernsehen als zu Hause. Weil Ferien waren, gab es nie Streit um Hausaufgaben oder unaufgeräumte Zimmer. Ich glaube, wir verbinden beide nur schöne Erinnerungen mit dieser Zeit und eben auch mit meiner Oma.

Bei Oma wurde ich alle Beschwerden los

Meine Oma war gut darin, die aus Kindersicht oft viel zu lange Zeit zwischen den Besuchen zu überbrücken. Wenn sie bei einem Geburtstag, an Ostern oder Weihnachten nicht dabei sein konnte, schickte sie ein großes Paket randvoll mit Süßigkeiten und Geschenken. Und dann eben die unzähligen Telefonate! Meistens, sagt meine Oma, wollte ich bei ihr irgendwelche Beschwerden los­werden. Jemand hatte mich ausgeschimpft (oft hatte ich auch was angestellt, wie meine Oma herausfand), nicht mit mir gespielt, oder ich hatte eben angeblich keinen Stuhl bekommen. Besonders wichtig waren die Anrufe bei meiner Oma, wenn ich Bauchweh hatte: Dann legte ich mir den Hörer auf den Bauch, und meine Oma musste durchs Telefon pusten, bis ich der Meinung war, dass es nicht mehr wehtat.

Irgendwann konnte man meine Sorgen nicht mehr einfach wegpusten. Ich rief meine Oma aber weiter an. Ganz besonders wenn es Dinge gab, die ich meinen Eltern nicht erzählen wollte: weil ich peinliche Nachfragen fürchtete, als ich zum ersten Mal verliebt war – oder Ärger, wenn ich eine schlechte Note hatte. Dabei waren meine Eltern nicht besonders streng. Die schlimmste Strafe, an die ich mich erinnern kann, war Fernsehverbot; von Hausarrest hielten meine Eltern nichts. Selbst als sie mich mal sehr betrunken von einer Party abholen mussten, kam ich mit einer Standpauke davon.

2016 feierte unsere Autorin ihren Bachelor-Abschluss – mit ihrer Oma.
2016 feierte unsere Autorin ihren Bachelor-Abschluss – mit ihrer Oma.privat

Trotzdem vertraute ich mich oft lieber erst mal meiner Oma an. Bei ihr fand ich immer eine ruhige Zuhörerin, bei der ich mir alles von der Seele reden konnte, ganz ohne Aufregung und ohne Vorwürfe, ob ich denn zum Beispiel nicht früher mit dem Vokabelnlernen hätte anfangen können. Meine Oma sagt, das sei eben der große Vorteil ihrer Rolle: „Als Oma trägt man nicht die Verantwortung.“ Sie habe oft sehr gut verstanden, wenn meine Eltern sich aufregten – als Mutter hätte sie wohl meist genauso reagiert. „Aber erziehen müssen die Eltern. Als Oma darf ich verwöhnen.“ Und verwöhnt hat mich meine Oma: Sie tröstete mich, freute sich für mich, sprach mir Mut zu. Sie gab mir das beruhigende Gefühl: Selbst wenn es Streit gibt mit meinen Eltern, zu ihr kann ich immer gehen.

Wenn ich sie darum bat, meinen Eltern nichts von unseren Gesprächen zu erzählen, hielt sie sich daran. Oft war das aber gar nicht nötig, weil sie es schaffte, zwischen mir und meinen Eltern zu vermitteln: „Du musst dich da auch mal in deine Eltern reinversetzen“, das hat sie oft zu mir gesagt – oder mir erzählt, was mein Vater früher angestellt und wie sie reagiert hatte und warum.

Überhaupt rückte sie öfter mal mein Bild gerade; schließlich dreht sich im Jugendalter alles nur um einen selbst. Wenn ich mal wieder über die Schule jammerte, erzählte meine Oma mir, wie gerne sie damals ihr Abitur gemacht hätte. Ihr Stiefvater war aber der Meinung, der Abschluss nach der zehnten Klasse müsse ausreichen. Meine Oma schaffte es immer, ihre Geschichten so zu erzählen, dass nie mitschwang: Stell dich nicht so an, mir ging’s damals viel schlechter. Sie zeigte mir einfach andere Perspektiven auf.

Meine Oma ist auch meine Inspiration

Heute schätze ich vor allem ihren Rat und ihren Blick aufs Leben. Sie ermutigt mich immer, meinen eigenen Weg zu gehen. Auslandssemester? Unbedingt! „Du lernst für dich, nicht für andere“, das sagt sie immer. Und sie überrascht mich oft mit einer ganz anderen Sichtweise: Als ich auf Wohnungssuche war und von Zweifeln an einer Wohnung mit Dachschrägen und Teppich erzählte, empfahl sie mir einzuziehen: „Gerade Wände hat doch jeder, schräge sind was Besonderes!“ Und den Teppich, setzte sie pragmatisch hinzu, könne man ja noch mal reinigen lassen. In der Wohnung lebe ich sehr zufrieden seit fünf Jahren.

Im August: mit Trauben, Käse und Wein auf Omas Balkon
Im August: mit Trauben, Käse und Wein auf Omas Balkonprivat

Und meine Oma ist auch ein bisschen meine Inspiration. Sie hat sich nie von äußeren Umständen beirren lassen, nie resigniert und ist zielstrebig ihren Weg gegangen. Nach ihrem frühen Abgang von der Schule lernte sie Krankenschwester. Mit Anfang 20 hatte sie bereits zwei Kinder. In der DDR war das zwar normal, ich finde es trotzdem beeindruckend. Denn meine Oma ließ sich auch mit zwei kleinen Kindern weiter­bilden. Weil sie nicht für immer im Schichtdienst arbeiten wollte, machte sie zwei Jahre lang eine Weiterbildung zur Gesundheitsfürsorgerin und setzte sich dafür jeden Morgen um sechs Uhr in den Zug. Sie erstritt sogar vor Gericht, dass mein Opa erst später zur Arbeit kommen musste, damit er meinen Papa und meinen Onkel in die Betreuung bringen konnte.

Nach der Wende drückte sie noch mal die Schulbank. Mit der Wiedervereinigung entfielen auch die Gesetze, die Basis für ihren Job waren. Meine Oma erkundigte sich bei den Behörden, organisierte sich eine bezahlte Freistellung, ging auf eine Fachhochschule und machte einen Abschluss als Diplom-Sozialarbeiterin – mit Ende 40. Und als ihre Stelle später verbeamtet werden sollte, absolvierte sie eben noch die Beamtenschule. Ob ich dazu die Muße hätte? „Ich wusste: Wenn ich’s nicht mache, macht’s niemand anderes für mich“, sagt meine Oma. „Und ich wollte das ja auch. Und ich wusste: Ich kann das.“

Für meine Oma hat es sich gelohnt. Sie übernahm den Sozialpsychiatrischen Dienst in der Kleinstadt, in der sie lebt. Manche der Menschen, die sie damals beraten hat, danken ihr heute noch, wenn sie sie auf der Straße sehen.

„Ich lebe hier und jetzt“, ist ihr Motto

Als mein Opa starb, war ich acht Jahre alt, meine Oma gerade mal Ende 50. Es gibt Menschen, die verkraften den frühen Tod ihres Partners nicht. Auch meine Oma hat eine Weile getrauert. Aber sie hat sich ihren Lebensmut nicht nehmen lassen. „Ich lebe hier und jetzt“, das ist seither ihr Motto: Nicht so viel darüber nachdenken, was andere sagen, sondern sich ein schönes Leben machen, solange man es kann. Sie hat einen neuen Partner kennengelernt und mit ihm die Welt bereist.

Von meiner Oma habe ich gelernt, dass es selbst dann gut weitergehen kann, wenn es zwischenzeitlich ziemlich schlecht aussieht – wir haben es selbst in der Hand. Dieses Jahr war für uns beide ein eher schlechtes. Für mich begann es mit einem gebrochenen Herzen – und ich fuhr für ein paar Tage zu meiner Oma. Allein bei ihr zu sein, tröstete mich: Auch als Erwachsene ist das Gefühl aus meiner Kindheit geblieben, dass bei meiner Oma immer alles gut ist.

Nur wenige Wochen später mussten wir uns sehr unerwartet von meinem Stiefopa verabschieden. Diesmal konnte ich für meine Oma da sein, ihre Hand halten, für sie Spaghetti kochen, mich mit ihr gemeinsam erinnern. Dadurch sind wir sogar noch enger zusammengerückt. In zwei Wochen fahre ich sie wieder besuchen, wir haben Karten für ein Konzert – und uns viel zu erzählen.