Surrealismus: Vorsicht, bissige Kunst! | ZEIT ONLINE

Alle, die beim Wort Surrealismus einen leichten Gähnreiz verspüren, vielleicht sogar schlimm genervt sind vom Traumkitsch zerfließender Uhren, sollten jetzt unbedingt ins Lenbachhaus nach München fahren und dort die frisch eröffnete Surrealismus-Ausstellung sehen. Fans des Surrealismus sowieso, nicht nur wegen der aus dem Ausland geliehenen Bilder von Pablo Picasso, Leonora Carrington, Victor Brauner. Zum 100. Geburtstag des surrealistischen Manifests von André Breton bebildert diese Ausstellung einen wichtigen Aspekt, der zu lange vergessen wurde: Der Surrealismus war eine antifaschistische Bewegung.

Viele der Poeten, Malerinnen, Regisseure und Fotografinnen, die sich dem Surrealismus verschrieben, machten dies ganz explizit auch in Opposition zum überall in Europa, ja in der Welt grassierenden Faschismus. Bei den einen war es eine konsequente Weiterführung ihrer antikolonialen oder kommunistischen Ideen. Bei anderen entwickelte sich das politische Engagement erst als Reaktion auf Verfolgung. In Paris und Prag, Marseille und Martinique bildeten sich surrealistische Zellen. Schon 1930 griffen in Frankreich dortige Faschisten eine Gruppenausstellung an, zerstörten Werke von Joan Miró, Salvador Dalí, Yves Tanguy. Später kämpften die Mitglieder der Gruppe „La Main à plume“ mit Waffen gegen die Nazibesatzung – und verlegten gleichzeitig von Picasso illustrierte Gedichte, die wie Flugblätter verteilt wurden. Und Hans Bellmer, der für seine sexuell aufgeladene Kunst berühmt war, fälschte plötzlich Ausweisdokumente. Selbst in Ägypten solidarisierten sich Künstlergruppen mit den in Nazideutschland verfolgten „entarteten Künstlern“.

„Der Hausengel“ von Max Ernst © Max Ernst/​VG Bild-Kunst, Bonn 2024

Die Kuratoren Stephanie Weber, Adrian Djukić und Karin Althaus rekonstruieren mit hierzulande nie gesehenen Kunstwerken und Dokumenten historische Situationen, etwa die Parteinahme von Künstlern wie Joan Miró im Spanischen Bürgerkrieg. Oder die Stoff für einen ganzen Roman bietende Flucht einiger Surrealisten auf einem Schiff von Marseille ins karibische Exil. Das Schönste: Selbst auf dieser Flucht feierten die Surrealisten ihre Kunst, spielten Theater – und lachten befreit in die Kamera.