Streit über Gaza: Netanjahus Sohn pöbelt gegen den Armeechef

Wie soll und wie wird Israel im Gazakrieg weiter vorgehen? Über diese Fragen hat sich im Land eine aufgeregte Debatte entsponnen. Die Wortmeldungen sind dabei zunehmend von Unterstellungen geprägt – so sehr, dass bisweilen nicht mehr klar zu sein scheint, wer Freund ist und wer Feind. Israels Verteidigungsminister, Israel Katz, sah sich am Mittwoch sogar genötigt, Generalstabschef Eyal Zamir beizuspringen – gegen eine Verleumdung durch den jüngeren Sohn von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu.

Yair Netanjahu, ein internetbekannter Provokateur, hatte in einem Eintrag auf der Plattform X relativ unverhohlen dem Armeechef vorgeworfen, hinter „einer Rebellion und einem versuchten Militärputsch“ zu stecken. Katz lobte daraufhin ebenfalls auf der Plattform X die Verdienste Zamirs und hob hervor, es sei dessen „Recht und Pflicht, seine Position in den richtigen Foren zum Ausdruck zu bringen“. Anschließend werde die Armee die Entscheidungen befolgen, welche die politische Führung trifft.

Der Armeechef ist für ein graduelles Vorgehen

Der 34 Jahre alte, de facto arbeitslose Yair Netanjahu kommentiert regelmäßig politische Vorgänge von der Seitenlinie, häufig mit haltlosen Theorien oder rassistischen Ausfällen. Oft radikalisiert er dabei politische Positionen seines Vaters. In diesem Fall geht es um einen schwelenden Konflikt zwischen dem Regierungschef und der Armeeführung, der zuletzt immer offensichtlicher geworden ist.

Netanjahu lässt seit einigen Tagen verbreiten, er wolle den gesamten Gazastreifen besetzen lassen. Seit März hat die Armee ihre Offensive ausgeweitet und kon­trolliert inzwischen rund drei Viertel des Küstenstreifens. Nur drei Gebiete sind noch nicht unter ihrer Kontrolle: Gaza-Stadt, Deir al-Balah und die umliegenden Flüchtlingslager in der Mitte des Gazastreifens und das Gebiet Al-Mawasi weiter südlich an der Küste.

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Zamir hat sich dagegen ausgesprochen, eine Offensive einzuleiten, um auch diese Gebiete zu erobern. Er setzt mehreren israelischen Medienberichten zufolge auf ein graduelles Vorgehen: Die Armee solle die genannten Gebiete belagern und Hamas-Ziele dort angreifen. Als Grund nannte der Generalstabschef demnach Besorgnis um das Leben der verbliebenen lebenden Geiseln, die dort vermutet werden.

Hinzu kommt, dass die Personalsituation in der Armee angespannt ist. Die Truppe ist ausgezehrt von den vielen Kriegsmonaten, und offenbar verweigern immer mehr Reservisten den Dienst, sei es aus politischen oder aus persönlichen Gründen. Zuletzt wurde die Zahl der Soldaten im Gazastreifen reduziert. Eine Vollinvasion würde erfordern, wieder mehr Soldaten dorthin zu schicken, die Rede ist von Zehntausenden Reservisten, die man einberufen müsste. Auch die Zahl der Gefallenen würde dann wohl steigen.

Auf einem mehrstündigen Treffen ranghoher Vertreter der politischen und der militärischen Führung, das am Dienstagabend stattfand und aus dem am Mittwoch mehrere israelische Medien zitierten, soll Zamir in diesem Sinne gewarnt haben, dass eine Offensive auf die verbliebenen Gebiete eine „Falle“ wäre. Netanjahu soll ihn ungeachtet dessen angewiesen haben, einen entsprechenden Plan vorzubereiten. Dieser soll auf einer Sitzung des Sicherheitskabinetts an diesem Donnerstag präsentiert und besprochen werden.

Wie soll eine Besetzung Gazas funktionieren?

Zamir habe unwirsch reagiert, heißt es. Außerdem soll er Yair Netanjahus X-Eintrag aufgebracht angesprochen haben. Benjamin Netanjahu habe zurückgegeben, Zamir solle darauf verzichten, über die Medien Kritik zu äußern und dort mit seinem Rücktritt zu drohen. Zuvor war aus Netanjahu-nahen Kreisen schon die Parole ausgegeben worden, wenn der Generalstabschef eine Ausweitung der Offensive im Gazastreifen ablehne, solle er eben zurücktreten.

Vertreter der Armeeführung werden in Medienberichten auch mit der Kritik zitiert, sie hätten von der Politik noch keine Antwort auf die Frage erhalten, wie eine Besatzung des Gazastreifens und seiner mehr als zwei Millionen Bewohner in der Praxis funktionieren soll. Auch Oppositionspolitiker sowie Angehörige von Geiseln warnen vor einer Vollinvasion – vor allem aus Furcht, dass die Geiseln dabei getötet werden könnten, sei es versehentlich durch die israelische Armee oder absichtlich durch die Hamas. Itzik Horn, dessen Sohn Eitan am 7. Oktober 2023 entführt wurde, sagte im Armeeradio, er erwarte von Netanjahu eine öffentliche Antwort darauf, „warum er meinen Sohn umbringen will“. Auch von der Hamas kamen umgehend entsprechende Andeutungen. Sollten israelische Truppen in Gebiete eindringen, in denen sich Geiseln befinden, werde ein dafür vorgesehenes „Protokoll“ umgesetzt, hieß es drohend.

Vom wichtigsten Verbündeten kam dagegen faktisch grünes Licht für eine Ausweitung der Offensive. Seine Regierung konzentriere sich darauf, die humanitäre Notlage im Gazastreifen zu lindern, sagte der amerikanische Präsident Donald Trump am Dienstagabend. Alles andere sei „die Sache Israels“.

Bei all dem bleibt unklar, ob Netanjahu tatsächlich die Einnahme der verbliebenen Gebiete anstrebt – oder ob er möglicherweise nur die internationale Aufmerksamkeit auf dieses Thema lenken will, um Israel aus der Schusslinie zu bringen, in die es wegen der Hungerkrise im Gazastreifen geraten ist. Zumindest ist nicht gesagt, dass eine Offensive unmittelbar bevorsteht. Im vergangenen Jahr vergingen mehrere Monate nach Netanjahus erster Ankündigung, Israel werde die Stadt Rafah einnehmen, bis die Offensive tatsächlich erfolgte.

Manche Kommentatoren glauben auch, der Ministerpräsident versuche, den seit dem Frühjahr amtierenden Armeechef gezielt als Sündenbock aufzubauen, den er für etwaige militärische Fehlschläge verantwortlich machen könne. Schon Zamirs Vorgänger Herzl Halevi war im Laufe des Krieges immer stärker von der Regierung für Misserfolge an den Pranger gestellt worden, bis er im Januar schließlich seinen Rücktritt ankündigte.