

Der Schuldige schien nach dem Brüsseler EU-Gipfel in der Nacht zum Freitag schnell ausgemacht. Der belgische Ministerpräsident Bart De Wever habe eine Einigung über die Nutzung der in der EU eingefrorenen russischen Zentralbankguthaben von 140 Milliarden Euro „blockiert“, hieß es nach den rund zwölf Stunden dauernden Gesprächen der Staats- und Regierungschefs. In der Tat brachte der Gipfel in dieser Frage eher einen Rückschritt als einen Fortschritt.
Die Schlusserklärung blieb hinter der ursprünglichen Absicht zurück, der EU-Kommission ein Mandat zu erteilen, baldmöglichst einen konkreten Gesetzesvorschlag zur Nutzung der russischen Guthaben für eine „Reparationsanleihe“ vorzulegen. Am Ende war nur noch von einer Einladung an die Kommission die Rede, finanzielle Optionen für die Unterstützung der Ukraine auszuarbeiten. In der Schlusserklärung heißt es weiter, die russischen Guthaben sollten eingefroren bleiben, bis Russland seinen Aggressionskrieg gegen die Ukraine beende und diese angemessen für die angerichteten Kriegsschäden entschädigt habe.
De Wever bot sich als Sündenbock an
Ob die EU das russische Geld je für Hilfen an die Ukraine wird nützen können, bleibt damit offen. De Wever bot sich als Sündenbock dafür an, weil er als einziger schon vor dem Gipfel seine Bedenken in aller Deutlichkeit wiederholt hatte. Der Hauptgrund dafür ist, dass die Zentralbankguthaben beim belgischen Finanzdienstleister Euroclear lagern. Nach der bisher vorgesehenen Konstruktion der „Reparationsanleihe“ wäre Belgien – sowohl als Finanzstandort als auch als Staat – einem Ausfallrisiko besonders stark ausgesetzt.
Die Reparationsanleihe beruht auf der Idee, dass sich die EU-Kommission am Kapitalmarkt verschuldet, die Anleihe aus den russischen Guthaben absichert und als Kredit an die Ukraine weiterreicht. Sie basiert auf der Fiktion, dass Kiew die von der EU gewährten Kredite dereinst werde zurückzahlen können, weil der Kriegsverursacher Russland nach einem (verlorenen) Krieg ausreichend Reparationen an die Ukraine zahlen und so den Verlust der Zentralbankguthaben ausgleichen werde. Falls es dazu nicht kommt, steht die Frage im Raum, wie sich die Garantien absichern lassen, ohne dass Russland – rechtswidrig – enteignet würde.
Das Modell sieht dafür eine prinzipiell vollständige Absicherung durch die Haushalte aller Mitgliedstaaten vor. Käme es dazu nicht, bliebe Euroclear und damit der belgische Staat auf den Verbindlichkeiten sitzen. Für De Wever birgt das auch innenpolitische Risiken, weil es die Aufstellung des belgischen Budgets für das kommende Jahr gefährdet.
Merz zeigte Verständnis
De Wever zweifelt unverändert daran, dass alle Staaten zu dieser gemeinschaftlichen Absicherung bereit sind. Die Diskussion auf dem Gipfel bestärkte ihn darin offenbar. Eine rechnerische Zusatzbelastung von insgesamt 140 Milliarden Euro ist für viele, teils ohnehin schon hoch verschuldete Länder eine bedeutende Zusatzbelastung. Der Belgier sagte, er habe auch aus den anderen Ländern keinen „Tsunami an Begeisterung“ zu dem Vorschlag wahrgenommen.
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) zeigte denn auch Verständnis für De Wevers Einwände. „Wenn ich an seiner Stelle wäre, hätte ich dieselben Vorbehalte“, sagte Merz. Er deutete an, dass neben Belgien auch andere Staaten mit der Idee der Reparationsanleihen nicht wirklich glücklich sind. Das Modell sei „nicht trivial“ und historisch beispiellos. Alle Mitgliedstaaten müssten die notwendigen Garantien vorhalten. Er habe diese Frage dem Bundeskabinett bereits vorgelegt.
Gefährdet wäre Belgien auch durch die schlichte Tatsache, dass es als Sitz von Euroclear ein leichtes Ziel möglicher russischer Vergeltung bei einer Aktivierung der Reparationsanleihen wäre. Deshalb verlangte De Wever eine weitere Risikoabsicherung für den Fall, dass die russische Regierung auf die Vermögen belgischer Unternehmen zugriffe. Das stieß ohnehin auf Widerstand.
Euroclear und der Zahlungsdienstleister Swift
Dass der kleine EU-Gründungsstaat im Mittelpunkt der Diskussion auf einem EU-Gipfel steht, ist denkbar ungewöhnlich. Belgien gilt schon deshalb als besonders EU-freundlich, weil die in Brüssel ansässigen europäischen Institutionen für das Land einen bedeutenenden Wirtschaftsfaktor darstellen. Freilich ist auch wenig bekannt, dass in Brüssel zwei der wichtigsten globalen Finanzinstitutionen ihren Platz haben – neben Euroclear auch der Zahlungsdienstleister Swift.
Beide Institutionen sind für die internationalen Finanzmärkte von zentraler Bedeutung. Euroclear ist einer der weltgrößten Verwahrer von Wertpapieren; das ist auch der Grund, weshalb die russischen Papiere überhaupt dort lagern. Das Unternehmen ist zudem generell mit dem Kauf oder Verkauf von Wertpapieren und deren Abwicklung (Settlement) betraut.
Swift wickelt wiederum fast den ganzen Zahlungsverkehr in der EU ab. Beiden Unternehmen ist gemeinsam, dass sie weitgehend neutral und im Hintergrund agieren. Die Unabhängigkeit von den Interessen einzelner Finanzplätze oder Finanzmarktakteure ist eine wichtige Voraussetzung ihrer Geschäftstätigkeit – und dürfte auch der Grund sein, warum die beiden Unternehmen ihren Sitz in Brüssel haben. Als sie in den Jahren 1968 (Euroclear) und 1973 (Swift) gegründet wurden, galt Belgien als politisch neutral und stabil.
Das war auch der wichtigste Grund, warum die zentralen Institutionen der damaligen Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) sowie die NATO die belgische Hauptstadt als Standort auswählten. Hinzu kommt, dass Belgien im Herzen Europas und etwa gleich weit entfernt von den wichtigsten Finanzzentren London, Paris, Frankfurt und Amsterdam liegt.
Dass De Wever der Idee der Reparationsanleihe skeptisch gegenübersteht, hat also nicht nur (haushalts-)politische Gründe. Sie geht auch auf die Sorge zurück, dass Belgien als Standort für zwei der wichtigsten Finanzmarktinstitutionen gefährdet werden könnte. Freilich weiß der belgische Ministerpräsident auch, dass sein Land sein Renommee als EU-Standort nicht gefährden darf. Er wolle nicht zum „europäischen Bad Boy“ werden, sagte er nach dem Gipfel.
