
Mit ausgebreiteten Armen tänzelt der junge Mann durch den Raum. Dann schnappt er sich einen Lappen und wischt spielerisch und mit flotten Bewegungen einige Tische ab. Diese Szene sieht aus wie das entspannte Herumalbern auf einer Party, aber der junge Mann befindet sich an seinem Arbeitsplatz. Deshalb hat sein Chef den Auftritt mit seinem Smartphone auf Video festgehalten, bevor er den Mitarbeiter nach Hause geschickt hat. Der Vorgesetzte wollte nicht, dass sich der junge Mann, Restaurantfachmann in einem Darmstädter Tagungszentrum, vor den Gästen seltsam und peinlich benimmt, wie der Chef als Zeuge vor dem Landgericht Darmstadt aussagt.
Wie sich im Prozess herausstellt, ist das merkwürdige Verhalten am Arbeitsplatz auf eine seelische Störung zurückzuführen, eine Psychose, die durch den regelmäßigen Genuss von Cannabis hervorgerufen worden ist. So ordnet ein Psychiater als Gutachter die Szene ein. Seine Einschätzung wird am Ende des Prozesses großen Einfluss auf das Urteil haben.
Video vom Smartphone als Beweismittel
Im Gerichtssaal wird das Smartphonevideo als Beweismittel vorgeführt, weil der Restaurantfachmann nach dem Verlassen seiner Arbeitsstelle im Industriegebiet an der Frankfurter Straße in sein Auto gestiegen und losgerast ist. Der junge Mann aus dem Video, der 24 Jahre alte Deutsche Masood H., steht als Angeklagter vor Gericht, weil bei der Fahrt ein schwerer Unfall passiert ist. In der Anklage wird ihm deshalb versuchter Mord vorgeworfen.
In der Hauptverhandlung wird die Fahrtstrecke mithilfe von Zeugenaussagen rekonstruiert. Demnach drehte der Fahrer zuerst einige Runden auf dem Betriebsgelände, dabei umkreiste er Gebäude und fuhr auch über Fußwege und einen Vorplatz. Dann ging die Fahrt mit hohem Tempo nach Norden in den Stadtteil Arheilgen hinein. In dem Wohngebiet fuhr Masood H. dem Urteil zufolge mehrfach über rote Ampeln und prallte schließlich gegen ein Auto, das aus einer Querstraße kam. An dieser Stelle gilt ein Tempolimit von 40.
Zusammenstoß bei Tempo 100
Beim Zusammenstoß war der Wagen des Angeklagten rund 1oo Kilometer in der Stunde schnell, wie ein Gutachter ermittelt hat. Das andere Auto überschlug sich, der Fahrer erlitt etliche schwere Verletzungen, darunter einen Schädelbasisbruch, mehrere Rippenbrüche und eine Verletzung der Lunge. Die Fahrt hätte noch deutlich schlimmer ausgehen können, nur mit einigem Glück ist dabei niemand zu Tode gekommen, wie der Vorsitzende Richter Volker Wagner bemerkt.
In dem Strafprozess spielt das Video vom Arbeitsplatz eine wichtige Rolle, weil es darüber Aufschluss gibt, in welcher seelischen Verfassung sich der Angeklagte während der Tat befunden hat. Der Psychiater Peter Haag sieht in der kurzen Szene einen klaren Beleg für eine seelische Störung. In dem Auftritt des jungen Mannes zeigt sich ein manisches Verhalten, Symptom einer Psychose, wie der erfahrene Gutachter ausführt. Das Benehmen sei gerade klassisch für diese Art der Störung. Bei Patienten, die stationär in einer psychiatrischen Klinik behandelt werden, erlebe man ähnliche Auftritte.
Als typisch für diesen Zustand beschreibt der Arzt, dass der Betroffene sich selbst überschätze und ein überzogenes Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten habe. Ein starker Bewegungsdrang, eine „motorische Unruhe“, gehört nach den Worten des Psychiaters ebenso zu dem manischen Verhalten wie eine starke Reizbarkeit.
Wie der Psychiater die Entstehung der Psychose erklärt
Sehr entschieden beschreibt Haag den Grund für die Entstehung der Psychose, die seiner Überzeugung nach durch den Konsum von Rauschgift ausgelöst worden ist. Der Angeklagte selbst spricht im Prozess davon, immer wieder Haschisch geraucht zu haben, um nach Stress bei der Arbeit Entspannung zu finden. Wie der Psychiater hervorhebt, ist Cannabis keineswegs ein harmloses Genussmittel, auch wenn es, besonders im Zusammenhang mit der Teillegalisierung im vergangenen Jahr, immer wieder als natürliches und sanftes Genussmittel beschrieben werde.
Die Droge löse zwar nicht bei jedem, aber bei denjenigen, die dafür eine Disposition aufwiesen, eine seelische Krankheit aus. Haag ist sich sicher, dass die Psychose im Fall des Angeklagten tatsächlich auf den Cannabiskonsum zurückzuführen ist und nicht nur zufällig zur gleichen Zeit aufgetreten ist. Denn während Masood H. in der Untersuchungshaft saß und nicht an Haschisch herankam, bildeten sich die Symptome zurück, und die Psychose verschwand wieder, wie der Arzt in seinem Gutachten ausführt.
Warnung vor Cannabis
Andere Fachleute warnen ebenfalls davor, Cannabis als harmlos anzusehen. Diese Droge sei eben nicht die „grüne Medizin, die fast gegen alles hilft“, sagt etwa der Psychiater Mathias Luderer, der an der Universitätsklinik in Frankfurt die Abteilung für Suchtmedizin leitet. Schon seit Jahren gebe es die Tendenz, dieses Rauschgift zu bagatellisieren, woran auch Influencer in den sozialen Medien mitwirkten. Die Teillegalisierung im vergangenen Jahr mache es den Ärzten nun noch schwerer, zu vermitteln, wie gefährlich der Konsum sei.
Auch der Frankfurter Suchtmediziner weist auf Psychosen als Folge hin. Bei jungen Menschen sei Cannabis der häufigste Grund für eine Suchtbehandlung. Personen im Alter von 18 bis 25 Jahren merkten, dass Cannabis ihr Leben zerstöre, dass es in Schule und Ausbildung nicht mehr klappe. Nicht zuletzt bestehe die Gefahr des Cannabiskonsums darin, dass er das Suizidrisiko verstärke.
Das Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim gibt an, mit der Teillegalisierung sei die Zahl der Psychosen nach Cannabiskonsum um ein Viertel gestiegen. In Kanada, wo das Rauschgift schon im Jahr 2018 erlaubt ist und kommerziell angeboten werden darf, gibt es nach diesen Angaben seitdem dreimal so viele Patienten, bei denen eine Psychose oder Schizophrenie als Folge des Konsums auftritt. Betroffen sind dort in erster Linie junge Männer.
Mehr Unfälle durch Rauschgift
Bei Verkehrsunfällen unter Einfluss von Drogen spielt Cannabis die Hauptrolle, weil es das am häufigsten konsumierte Rauschmittel ist. Für das Jahr 2023 verzeichnet das Statistische Bundesamt 3000 Verkehrsunfälle mit 48 Toten und 4000 Verletzten unter Einfluss von Drogen. In den Jahrzehnten von den frühen Neunzigerjahren bis 2021 ist die Zahl der Drogenunfälle mit Toten oder Verletzten auf mehr als das Fünffache gestiegen.
Wie sich seit dem vergangenen Jahr die Teillegalisierung auf den Straßenverkehr auswirkt, wird bisher in der Statistik für ganz Deutschland noch nicht erfasst. In den Daten aus einzelnen Bundesländern zeichnet sich aber schon ab, dass mehr Unfälle passieren, etwa in Brandenburg. Nach Angaben des dortigen Innenministeriums ist die Zahl der Unglücke unter Einfluss von Cannabis um ein Viertel gestiegen, während keine andere Unfallursache einen solchen Zuwachs aufweist.
Was die Exfreundin über den Unfallfahrer sagt
Wie sich das Leben des Angeklagten des Darmstädter Prozesses mit dem Rauchen von Haschisch verändert hat, wird durch Zeugenaussagen deutlich. Seine Chefs beschreiben ihn als freundlichen und zuverlässigen Mitarbeiter. Schwierigkeiten mit ihm gab es nach ihren Worten erst in den Wochen vor der Unfallfahrt. Schon früher hat seine damalige Partnerin eine Wesensänderung bemerkt, wie die 25 Jahre alte Frau als Zeugin berichtet. Während der vier Jahre dauernden Beziehung habe der Mann, den sie als einen guten Menschen bezeichnet, begonnen, Haschisch zu rauchen.
In dieser Zeit habe er sich mystischen Vorstellungen hingegeben, sich der Numerologie zugewandt und sich eingebildet, aus Zahlen ähnlich wie in der Astrologie aus den Sternbildern Erkenntnisse herleiten zu können. Getrennt hat sich die junge Frau nach eigenen Worten von dem Mann, weil er sie geschlagen hat. Danach habe er behauptet, sie durch die Augen ihrer Katze beobachten zu können.
Fast vier Jahre Gefängnis für illegales Straßenrennen
In der Hauptverhandlung am Landgericht, die vier Tage dauert, sieht der Psychiater in seinem Gutachten wegen der seelischen Störung des Angeklagten dessen Fähigkeit, sein Verhalten zu steuern, erheblich eingeschränkt. Deshalb stellt der Gutachter eine verminderte Schuldfähigkeit fest. Staatsanwältin Elena Beyer rückt in ihrem Plädoyer von dem in der Anklage erhobenen Vorwurf des versuchten Mordes ab. Die Richter sprechen den nicht vorbestraften Mann schließlich wegen eines illegalen Autorennens in Verbindung mit Gefährdung des Straßenverkehrs schuldig und verhängen eine Freiheitsstrafe von drei Jahren und zehn Monaten.
Für einen versuchten Mord hätte man annehmen müssen, der Angeklagte habe bei seiner Fahrt den Tod anderer Menschen billigend in Kauf genommen, erläutert der Vorsitzende Wagner in der Urteilsbegründung. Das könne man ihm aber nicht nachweisen, eben weil sein Verhalten zur Tatzeit von der Psychose bestimmt worden sei. In deren Folge habe der junge Fahrer die eigenen Fähigkeiten so sehr überschätzt, dass er nicht mit einem Unfall gerechnet habe. Er sei nicht in der Lage gewesen, nüchtern zu kalkulieren.
Das Video vom Arbeitsplatz, das den jungen Mann um die Tische tanzend zeigt, bezeichnet der Richter als „Schlüssel“ zum Verständnis der Tat. Die Schwurgerichtskammer folgt dem psychiatrischen Gutachter und führt die Psychose auf den regelmäßigen Konsum von Cannabis zurück.
Doch auch ohne Mordvorwurf muss eine Gefängnisstrafe verhängt werden, wie Wagner ausführt. Denn die Gesellschaft könne es nicht hinnehmen, dass in einem Wohngebiet dermaßen gerast werde. Eine Bewährungsstrafe, wie von der Verteidigung beantragt, komme daher nicht in Betracht. Ein illegales Rennen sei nach dem Gesetz gegeben, auch wenn der Angeklagte nicht mit einem anderen Fahrer um die Wette gefahren sei. Der Tatbestand sei erfüllt, weil er so schnell wie möglich gefahren sei und sich dabei rücksichtslos verhalten habe.
Richter: Tat war kein islamistischer Anschlag
Ein anderes Motiv für die Fahrweise schließen die Richter aus. Nach dem Aussteigen hatte der in Afghanistan geborene Fahrer den Aussagen von Polizisten zufolge gesagt, der „Allmächtige“ habe ihm sein Handeln befohlen. Deshalb hatte die Polizei zunächst eine absichtliche Amokfahrt, einen Anschlag mit dem Auto mit einem islamistischen Motiv, für möglich gehalten und einen Großeinsatz in Gang gesetzt. Wagner sagt in der Urteilsbegründung, schon nach dem Zusammenstoß sei der Seelenzustand des Mannes so offensichtlich gewesen, dass er in die psychiatrische Abteilung eines Krankenhauses gebracht worden sei.
Und noch eines gibt der Richter dem Angeklagten mit auf den Weg. Die Kammer entscheidet, dass die Untersuchungshaft fortgesetzt wird. Das begründet Wagner damit, das Gefängnis tue dem jungen Mann gut, weil er so von Haschisch ferngehalten werde.